Neues Brexitdatum kennt niemand Abwarten und Tee trinken in Brüssel

Brüssel · Nachdem der EU-Gipfel einen neuen Brexit-Fahrplan beschlossen hat, ist London am Zug.

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Foto: SZ

Nach über sechs Stunden kam sogar EU-Ratspräsident Donald Tusk durcheinander. Am Donnerstagabend, kurz vor Mitternacht, verkündete der Pole, der EU-Gipfel zum Brexit habe „einer Fristverlängerung bis zum 22. April zugestimmt.“ Er hielt kurz inne und korrigierte sich dann: „Bis zum 12. April.“ Den Versprecher konnte man Tusk leicht nachsehen, zu verwirrend und chaotisch verliefen die zurückliegenden Stunden, in denen die britische Premierministerin Theresa May 90 Minuten lang ihre Sicht der Dinge darstellte und dabei, so ein Teilnehmer der Gipfelrunde, „kein einziges neues Wort von sich gegeben hat“. Trotzdem verständigten sich die Staats- und Regierungschefs auf mehrere Szenarien:

Wenn das britische Unterhaus in der nächsten Woche mehrheitlich den ausgehandelten Austrittsvertrag billigt, findet der Brexit am 22. Mai statt. Das Datum ist leicht zu erklären: Am 23. Mai beginnen in den ersten EU-Ländern die Europawahlen. Wäre das Vereinigte Königreich dann noch Mitglied der Union, müssten die Briten mitwählen.

Sollte der Austrittsvertrag allerdings zum dritten Mal durchfallen, müsste May vor (!) dem 12. April erklären, wie es dann weitergeht. Dieses Datum hat ebenfalls mit dem Wahlgang in der EU zu tun.

Spätestens dann müsste London die Vorbereitungen für die Teilnahme an den Wahlen beginnen. Gleichzeitig wäre May verpflichtet, den Staats- und Regierungschefs vor dem April-Datum zu erklären, wie es denn nun weitergehen soll. Der Gipfel schloss eine längerfristige Verschiebung des Brexit auch in diesem Fall nicht völlig aus. Allerdings nur, wenn es dafür eine plausible Begründung gebe – zum Beispiel Neuwahlen, ein zweites Referendum oder andere „substanzielle Veränderungen“. Dies könnte zum Beispiel ein Exit vom Brexit sein oder auch eine grundlegende Neuorientierung, beispielsweise, wenn London einen Mini-Brexit beschließt, bei dem das Land in einer Zollunion mit der EU verbunden bliebe.

Solche Eventualitäten wollte May in der Nacht aber nicht einmal denken: „Ja, wir werden die EU verlassen“, sagte sie und erteilte Spekulationen, der Brexit könne abgeblasen werden, eine strikte Absage. Es sei die Pflicht des Parlaments, dem Austrittsvotum der Bürger vom Juni 2016 Taten folgen zu lassen.

Klingt der neue Brexit-Fahrplan kompliziert? Nicht für EU-Politiker wie Udo Bullmann. „Das klärt die Verhältnisse“, sagte der sozialdemokratische Fraktionschef im Europaparlament. „Die Europäer haben die Entscheidungen in London vorstrukturiert.“ Die Gefahr eines chaotischen Brexits am 12. April hält Bullmann für gering. Das „wird es nicht geben“. Denn: „Das kann kein einigermaßen vernunftbegabter Mensch wollen.“ Die Parteien in London würden vorher ganz gewiss eine andere Lösung finden.

Die 27 EU-Staats- und Regierungschefs mussten lange an einer gemeinsamen Linie feilen. Während Bundeskanzlerin Angela Merkel dafür eintrat, „bis zur letzten Stunde alles für einen geordneten Austritt“ zu tun, argumentierte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron für eine konsequente Linie. Sollte das Unterhaus in der kommenden Woche das Austrittsabkommen zum dritten Mal ablehnen, „war’s das“. Der Luxemburger Xavier Bettel meinte, in diesem Fall sind „die Briten am 12. April draußen – ohne Deal“. Dass es auch dann noch eine Hintertüre geben könnte, verdankt May vor allem den gemäßigteren Staats- und Regierungschefs, die Merkel folgten. Einig waren sich am Ende aber alle – auch in der grundsätzlichen Einschätzung, dass Großbritannien jetzt zu einer Entscheidung gezwungen werden soll.

Die EU hofft dabei auf einen Kurswechsel in London. Und so heißt es nun in Brüssel: Abwarten und Tee trinken. EU-Diplomaten finden die Beschlüsse genial, weil nun die Last auf London ruht. Regierungschefin May reichte den Kelch sofort weiter und stellte klar: London heißt in dem Fall Westminster, das britische Parlament. Von Brüssel aus sieht man die Lage im Unterhaus sehr trübselig. Im Kreis der 27 Staats- und Regierungschefs war nach Angaben eines hohen EU-Beamten kein einziger, der dem Brexit-Vertrag bei der dritten Abstimmung große Chancen einräumt. Man erwartet wohl bis zum 12. April das politische Beben in London, das sich seit Monaten grollend ankündigt und bisher doch immer ausgeblieben ist. Das Parlament werde die Kontrolle übernehmen und bis zum 12. April eine überparteiliche Lösung finden, prophezeite SPD-Europapolitiker Bullmann. Er hält politisch fast alles für möglich, vom Sturz der Regierung über eine Neuwahl bis zu einem zweiten Brexit-Referendum – wobei Bullmann natürlich schon aus Prinzip seinem Kollegen Jeremy Corbyn von der Labour-Partei für einen Regierungswechsel die Daumen drückt.

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