Braucht Deutschland ein neues Grundgesetz?

Berlin. Ist das Grundgesetz am Ende? Müssen die Deutschen schon bald über eine neue Verfassung abstimmen, um Europa zu retten? Was bislang als eher verfassungstheoretische Diskussion erschien, hat mit Äußerungen von Wolfgang Schäuble (CDU) Brisanz gewonnen

 Mit einem Grundgesetz am Hinterkopf protestiert dieser Demonstrant in Frankfurt gegen die europäische Sparpolitik - einer der Höhepunkte der "Blockupy"-Aktionstage. Foto: Arnold/dpa

Mit einem Grundgesetz am Hinterkopf protestiert dieser Demonstrant in Frankfurt gegen die europäische Sparpolitik - einer der Höhepunkte der "Blockupy"-Aktionstage. Foto: Arnold/dpa

Berlin. Ist das Grundgesetz am Ende? Müssen die Deutschen schon bald über eine neue Verfassung abstimmen, um Europa zu retten? Was bislang als eher verfassungstheoretische Diskussion erschien, hat mit Äußerungen von Wolfgang Schäuble (CDU) Brisanz gewonnen. "Ich gehe davon aus, dass es schneller kommen könnte, als ich es noch vor wenigen Monaten gedacht hätte", hatte Schäuble gesagt. Ob es zu einer Volksabstimmung kommt, stellte der Minister gar nicht mehr infrage.Das wäre ein Novum in Deutschland, über das Grundgesetz wurde nämlich noch nie abgestimmt. Angenommen wurde das Grundgesetz am 8. Mai 1949 durch den Parlamentarischen Rat. Auch zwei Drittel der deutschen Länder mussten zustimmen, was sie auch taten - mit einer Ausnahme: Bayern lehnte das Grundgesetz ab, weil es zu großen Einfluss des Bundes befürchtete. Die Verbindlichkeit für Bayern wurde aber später in einem gesonderten Beschluss festgestellt.

Das Grundgesetz in seiner heutigen Form ist "europarechtsfreundlich": Es erlaubt, dass Deutschland Kompetenzen an die Europäische Union abgibt. Allerdings gibt es Grenzen. Im Urteil über den EU-Vertrag von Lissabon 2009 entschied das Bundesverfassungsgericht: Ein Mindestmaß an Kompetenzen muss in Deutschland bleiben. Für den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat wäre eine neue Verfassung nötig. Das klang für die meisten, als wolle Karlsruhe der EU ein für alle Mal Grenzen setzen. Eine neue Verfassung schien kaum vorstellbar. Im Urteil zu den Griechenland-Hilfen 2011 ergänzte das Gericht: Auch die Entscheidung über den nationalen Haushalt sei eine "wesentliche, nicht entäußerbare Kompetenz" des unmittelbar demokratisch legitimierten Parlaments.

Kurz nach der Griechenland-Entscheidung machte sich Verfassungsrichter Peter Huber Gedanken über ein neues Grundgesetz. Das könnte sich "auf wenige geänderte Sätze" beschränken, sagte Huber in einem Interview. "In der Sache aber wäre es eine Revolution." Das zuvor fast Unvorstellbare wurde denkbar.

Nur: Wann wäre es so weit? Das ist im Moment die spannendste Frage. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, bleibt vage: "Wir befinden uns in einem Stadium, in dem es schwieriger werden dürfte, weitere Integrationsschritte mit dem Grundgesetz kompatibel zu gestalten", sagte Voßkuhle im vergangenen September. Das Grundgesetz schütze die Bürger davor, "dass sie eines Morgens aufwachen und die Bundesrepublik als souveräner Staat nicht mehr existiert, ohne dass sie vorher gefragt worden wären".

Für manche ist die "rote Linie" aus dem Lissabon-Urteil bereits mit dem Fiskalpakt und dem Euro-Rettungsschirm ESM überschritten: Sowohl die Linken im Bundestag als auch die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) mit dem Verein "Mehr Demokratie" wollen gegen die Zustimmungsgesetze klagen.

"Das Fiskalpakt mit seinen weitgehenden Kontrollrechten für die europäischen Institutionen bringt einen Souveränitätsverlust", sagt der Leipziger Staatsrechtlehrer Christoph Degenhart, der die Klage von "Mehr Demokratie" vertritt. Sein Passauer Kollege Christoph Herrmann ist anderer Ansicht: "Im Fiskalpakt gibt es zwar Sanktionen, aber keine Möglichkeit eines direkten Eingriffs in den Haushalt."

Schließlich: Wie würde eine Volksabstimmung funktionieren? Nach Artikel 146 Grundgesetz kann das deutsche Volk eine neue Verfassung beschließen. "Das Problem ist: Das Gericht verweist auf eine Norm, von der keiner sicher weiß, wie sie funktioniert", sagt der Passauer Staatsrechtler Herrmann. Vorstellbar wäre: Bundestag und Bundesrat beschließen ein geändertes Grundgesetz, anschließend findet dazu ein Volksentscheid statt.

"Eine Abstimmung über eine neue Verfassung wäre eine große Chance für Deutschland und für Europa", meint der Justiziar der Linken-Fraktion im Bundestag, Wolfgang Neskovic. "Damit würde nachgeholt, was bei der Wiedervereinigung in Deutschland 1990 insbesondere den Menschen aus der ehemaligen DDR verweigert wurde: dem Volk die Möglichkeit zu geben, über eine neue gemeinsame Verfassung zu entscheiden."

Foto: kahnert/dpa

"Vor ein paar Monaten hätte ich noch gesagt:

Nie im Leben.

Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher."

Bundesfinanzminister

Wolfgang Schäuble (CDU)

zu einer möglichen Volksabstimmung

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über das Grundgesetz

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