Brachiale Musik für eine frustrierte Jugend

London · Schrille Outfits, provokante Texte, Alkohol, improvisierte Musik – vor 40 Jahren entstand in Großbritannien die Punk-Bewegung, London wurde zum Epizentrum einer extrem rebellischen Jugendkultur. Auswirkungen davon sind bis heute spürbar, daher feiert die Stadt das Jubiläum mit zahlreichen Veranstaltungen.

"Sagt etwas Empörendes", stachelt der Moderator Bill Grundy die betrunkenen Musiker in seiner Live-Sendung noch an. Ihm ist nicht bewusst, dass er nur kurz darauf gefeuert wird. Denn die jungen Menschen, die vor ihm sitzen, nennen sich Sex Pistols - und natürlich tun sie ihm gerne den Gefallen. Am Nachmittag - in britischer Zeitrechnung zur heiligen "tea time" - senden sie in drei Minuten mehr Schimpfwörter ins Land, als das jemals zuvor im englischen Fernsehen der Fall war. Steve Jones trägt ein provozierendes T-Shirt, auf das die Designerin Vivienne Westwood nackte Frauenbrüste gedruckt hat. Und dann schleudert er dem Moderator "dreckiges Schwein", "Hurensohn" und "Arschloch" entgegen. Das Interview am 1. Dezember 1976 sorgte für einen landesweiten Skandal. Es hat zwar nicht den Lauf der britischen Musikgeschichte geändert, doch hat es den Erfolg der Punkmusik massiv beschleunigt. Denn gerade weil die meisten Zuschauer mit der Moralkeule, rotem Kopf und zusammengekniffenen Augen vor dem Fernseher saßen, entwickelte sich Punk innerhalb von Tagen zu einem nationalen Phänomen.

Nur vergleichsweise wenige Menschen im Königreich hatten zuvor von der neuen Strömung Notiz genommen. Erst am 22. Oktober kam mit "New Rose" von The Damned die erste Single einer britischen Punkband heraus, die Sex Pistols veröffentlichten am 26. November "Anarchy in the U.K.". Doch ansonsten präsentierte sich der Punkmusik-Markt noch als äußerst überschaubar. Dabei nahm die Bewegung schon im September 1976 Fahrt auf, als beim ersten Punkfestival Englands im legendären Londoner "100 Club" die Sex Pistols , The Clash , The Damned, Siouxsie and the Banshees und die Vibrators für Schlagzeilen und Aufsehen sorgten. Provokativ, unangepasst, brachial laut - was zuvor in den USA mit den Ramones, Patti Smith und dem New Yorker Club CBGB startete, hatte sein Pendant in Europa gefunden. "Es war neu. Es war radikal. Es war anders", sagt Andy Linehan, der in diesem Jahr eine Schau in der British Library zusammenstellte, die sich dem Phänomen Punk widmete. Dabei entsprachen die Texte, die wild improvisierte Musik mit oft nur drei Akkorden sowie der dazugehörige Lifestyle dem Zeitgeist einer Jugend , "die unzufrieden war, gelangweilt vom Status quo, der nichts für ihre Generation bot, und natürlich reizte sie auch die Kontroverse", so Linehan. "Und man sollte nicht vergessen: Punk machte einfach wirklich großen Spaß."

40 Jahre später zelebriert London deshalb das Jahr 1976, in dem "der Punk explodierte", wie der Musikexperte meint, mit Konzerten, Filmen und Ausstellungen, organisiert von verschiedenen Institutionen wie dem Museum of London , dem British Fashion Council oder eben der British Library . Dabei zeigt sich, dass der Punk auch heute noch in der Gesellschaft verankert ist, ohne jedoch genau beschrieben werden zu können. "Punk ist, was der Einzelne darin sehen will", meint Linehan.

Vor vier Jahrzehnten verfing das Konzept schnell im grauen Königreich, wo die Rolling Stones längst zum Establishment gehörten und die Zukunft für viele Jugendliche nichts als Arbeitslosigkeit bereit hielt. Dabei spiegelte neben der Musik und dem nonkonformistischen Verhalten vor allem das Aussehen die anarchistische Haltung wider und nahm deshalb eine wichtige Rolle ein. So schrill und unkonventionell wie möglich traten die Musiker in der Öffentlichkeit auf, färbten sich den Irokesenschnitt, legten sich Metallketten um den Hals, klebten Nieten auf die Lederjacken oder steckten sich Ringe in die Nasen und Sicherheitsnadeln in die Ohren. Die Klamotten wurden selbst zerschnitten, bemalt, bedruckt oder im Geschäft von Vivienne Westwood und Malcolm McLaren in Chelsea gekauft. Punk definierte die Popkultur neu, die Folgen wirken bis heute nach - ob bei Mode, Musik , Kunst oder beim Geschlechterdenken. "Die Rolle der Frau in Bands hat sich damals verändert", sagt Andy Linehan. Doch das war längst nicht alles: "Die Leute sehen Punk oft als negativ und nihilistisch an, aber er war auf vielerlei Weise auch positiv - er gilt als die Geburt der unabhängigen Plattenlabels."

Dinge so zu machen, wie man will, Ideen selbst umzusetzen und auf niemanden angewiesen zu sein - während das Phänomen Punk zu Beginn noch allerorten schockierte, hatte es sich bereits Ende des Jahres 1976 zum Massenphänomen entwickelt. Auch der kommerzielle Erfolg stellte sich ein. Für den Moderator Bill Grundy ging die Karriere dagegen nach dem für die Nation empörenden Fernsehinterview mit den Sex Pistols nur noch bergab, auch wenn es ihn im ganzen Land und vor allem in der Szene berühmt machte. Die Band "Television Personalities" nahm den Vorfall gar als Inspiration für ein Lied. 1978 fragten sie laut in Punkmanier: "Where's Bill Grundy Now?" Er starb im Jahr 1993.

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