Belgiens bitterböser Exportschlager

Brüssel · Aus Belgien sind, auf die Einwohnerzahl gerechnet, die meisten Dschihadisten aus Europa in den Irak und nach Syrien gereist. Die Gruppe „Sharia4Belgium“ hat ein riesiges Netzwerk aufgebaut. Ein Land sucht nach Erklärungen.

Vom kleinen Volksfest weht Kirmesmusik herüber. Das 17 000-Einwohner-Städtchen Boom, ein paar Kilometer südlich der Hafenstadt Antwerpen , feiert seinen 185. Jahrmarkt. Am Kai jedoch, nur ein paar Gehminuten entfernt, verliert sich kaum jemand. Erst recht seit das Jugendhaus, der Schandfleck der Stadt, geschlossen und abgerissen wurde. Belgien erntet heute, was einst auf diesem nun brachliegenden Gelände gesät wurde.

Etwa 400 der 3000 Europäer, die sich den vermeintlichen Gotteskriegern des Islamischen Staates in Syrien und im Irak angeschlossen haben, kommen aus dem Elf-Millionen-Einwohner-Land. Aus dem acht Mal größeren Deutschland stammt dieselbe Zahl Terrorreisender. In keinem anderen EU-Staat ist ihr Anteil höher. Hier hat es den ersten Anschlag eines Syrien-Rückkehrers gegeben. Bei der Schießerei im Jüdischen Museum in Brüssel starben Ende Mai vier Menschen. Weitere Attentate waren nach Polizeiangaben geplant, konnten aber vereitelt werden. Und die Behörden vermuten, dass mit all dem "Sharia4Belgium" zu tun hat.

Der Anführer der Organisation grinst ins Publikum, als er von Zivilbeamten in Handschellen in den Saal D 1 des Justizpalastes von Antwerpen geführt wird. Es ist der vierte Tag im größten Terrorprozess der belgischen Geschichte. Fouad Belkacem, der sein Netzwerk vom Jugendhaus in Boom aus begründete, hat in einem Drohvideo angekündigt, das Brüsseler Atomium in die Luft zu sprengen und Belgien in ein Kalifat zu verwandeln. Angeklagt sind 45 weitere Männer, die dem 32-Jährigen auf diesem Weg folgen wollten und in Syrien und im Irak gekämpft haben. Gut 20 Polizisten sind im Saal, der nur per Sicherheitsschleuse zu betreten war. Draußen sind ihre Kollegen mit Maschinengewehren und Spürhunden zu sehen.

Belgien lernt gerade schmerzhaft, dass die radikal-islamische Propaganda in ihrem Land auf fruchtbaren Boden fällt - und auch, was viele Mütter und Väter deshalb durchmachen. Da ist zum Beispiel Rosana Rodrigues, eine Brasilianerin, die einen Belgier geheiratet hat und in Antwerpen lebt. Vor Gericht springt sie plötzlich auf und schreit, Belkacem habe ihren Sohn mit seinem "goldenen Herzen" in einen "programmierten Roboter" verwandelt. Jetzt kämpft er für den Islamischen Staat in Syrien. Mit seiner Mutter habe er gebrochen - weil sie keine Muslima sei.

Von Gehirnwäsche spricht auch Anwalt Kris Luyckx, wenn es um seinen Mandanten Jejoen Bontinck geht. Er gehört zu jenen, die Fouad Belkacem gelauscht hatten, als der im Antwerpener Marokkanerviertel Hoboken predigte. "Ich will mich in die Luft sprengen und im Paradies leben", soll der Junge dem Anwalt zufolge gesagt haben, als er nach der Scheidung seiner Eltern und Problemen mit der Freundin in die Gruppe der Dschihadisten aufgenommen wurde. Kurz nach seinem 18. Geburtstag 2013 schickte ihn "Sharia4Belgium" nach Syrien: "Die haben alles organisiert, den Reiseplan, das Geld", sagt sein Anwalt. Heimgeholt hat ihn der Vater, der nun auf einen Freispruch hofft.

Im Prozess sitzen Jejoen Bontinck und Fouad Belkacem dicht beisammen, würdigen sich jedoch keines Blickes, da Jejoen Angeklagter und Zeuge zugleich ist. Nach seiner Rückkehr hat er ausgepackt und Belgiens Geheimdienst sowie Spezialisten des BND und der CIA Rede und Antwort gestanden.

Je länger der Prozess dauert, desto lauter fragen die Belgier: Warum passiert das ausgerechnet bei uns? Auf den Straßen von Molenbeek-St. Jean ist die Wut der Jungen zumindest keine Unbekannte. Die Polizei traut sich seit Jahren nicht mehr, im islamisch geprägten Viertel auf Patroullie zu gehen. In der Rue des Ateliers des Brüsseler Stadtteils versuchen sie seit 45 Jahren, dass sich diejenigen am Rande der Gesellschaft trotz aller Probleme fürs Mitmachen entscheiden. Das Zentrum "Foyer" bietet Gesprächskreise, Handwerker-Workshops, Integrationskurse für jedes Alter an. Kleine Jungs spielen im Hof, im ersten Stock wird gebastelt, darüber tagt der Frauenkreis. Und dennoch muss Johan Leman feststellen, dass er viele wieder verloren hat. In einer Mischung aus Stolz und Rechtfertigung berichtet der Sozialarbeiter, dass kein einziger junger Mann, als er noch die Angebote im "Foyer" wahrgenommen hat, direkt nach Syrien oder in den Irak aufgebrochen ist, sondern erst später, nachdem der Kontakt plötzlich abgebrochen ist. Was soll er auch sagen, wo allein zwölf junge Dschihadisten aus seinem Umfeld in den Krieg gezogen sind.

Leman lebt und arbeitet mitten in seinem Studienobjekt. Er ist zugleich Migrationsforscher an der alten Uni von Leuven und Ende des Monats Redner auf einer Konferenz über die Radikalisierung der belgischen Muslime. Er erzählt von Jungen, die trotz Lehre oder Studium nicht wissen, ob ihre Zukunft wirklich in Belgien liegt, und dann "mit der sektenähnlichen Interpretation des Islam eine Identität angeboten bekommen". Danach, hat Leman beobachtet, fordert die neue Bezugsgruppe, die wegen ihrer tiefen Gläubigkeit als einzige von Allah verschont bleiben soll, von den Neuen einen Beweis der eigenen Überzeugung ein - die Reise nach Syrien.

Doch nicht nur aus Brüssel kommen die "Foreign Fighters" des IS. Zwar kommen hier die meisten her, danach folgen Antwerpen , Vilvoorde und Mechelen . Es sind aber auch die Städte, in denen Belkacems Netzwerk am aktivsten geworben hat. "Man braucht jemanden, der die Lunte ans Pulverfass legt", sagt Anwalt Luyckx: "Ohne Belkacem hätte es keine ‚Scharia4Belgium' und keine ‚Foreign Fighters' aus Belgien gegeben." Der Journalist Guy Van Vlierden, der in seinem "Emmejihad"-Blog die Aktivitäten der Belgier in der Kampfzone dokumentiert, pflichtet ihm bei: "Die Organisation ist der Hauptgrund für die hohe Zahl belgischer Kämpfer in Syrien." Ist es wirklich so einfach?

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