Behördenversagen auf 1800 Seiten

Erfurt · Aus Thüringen kommen die Mitglieder der Neonazi-Terrorzelle NSU. Das Land fühlt sich bei der Aufklärung besonders verantwortlich. Der erste Untersuchungsausschuss wirft den Behörden systematisches Versagen vor.

Dorothea Marx sitzt vor einem dicken Stapel Papier - 1800 Blatt. Nächtelang hat sie als Vorsitzende des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses am Abschlussbericht des Landtagsgremiums geschrieben. Er stellt den Fahndungsbehörden bei der Verfolgung der Mitglieder und Unterstützer der rechten Terrorzelle NSU ein hartes Zeugnis aus: systematisches Versagen. "Wir wollen rückhaltlos aufklären", sagt die SPD-Politikerin und Juristin am Donnerstag: "Wir sind dem Schmerz ausgesetzt, Dinge zu finden, die nicht schön sind." Der Schmerz wird andauern.

Schließlich kommt der Bericht zu dem Schluss, dass Thüringen "ein Zentrum der Fehlleistungen" während der Suche nach den späteren NSU-Terroristen war. Die Morde hätten demnach verhindert werden können. Zusammen mit den Obleuten der anderen Fraktionen ist Marx der Meinung, dass die Aufklärungsarbeit nicht abgehakt werden sollte: nicht nach zweieinhalb Jahren, 68 Ausschusssitzungen, dem Studium tausender Akten, der Anhörung von 123 Zeugen und Sachverständigen und einer Sondersitzung des Landtags. "Das rechte Netzwerk muss weiter untersucht werden - durch Ermittler, aber auch durch Parlamente", sagt die Linke-Abgeordnete Katharina König. Auch Grüne und CDU wollen noch keinen Schlussstrich ziehen. Drei Wochen vor der Landtagswahl in Thüringen plädieren die Obleute der Fraktionen damit in seltener Einmütigkeit für einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss.

Die Thüringer sind mit dieser Überlegung nicht allein. Nachdem der NSU-Prozess in München seit etwa einem Jahr läuft und der 1300 Seiten starke Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags ein Jahr zurückliegt, wird auch in Berlin diskutiert: Soll es einen zweiten NSU-Ausschuss geben? Während in Erfurt die Frage am Donnerstag von den Ausschussmitgliedern mit Ja beantwortet wird, ist der Bundestag noch unentschlossen. "Es spricht einiges dafür, dass es auch im Bundestag eine Neuauflage eines NSU-Untersuchungsausschusses gibt", sagt die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei Martina Renner. Die Diskussion werde auch geführt, nachdem vor einigen Wochen ein V-Mann des Verfassungsschutzes namens "Corelli" tot gefunden worden sei. Eine Entscheidung in den Fraktionen oder im Bundestag sei jedoch noch nicht in Sicht. Dagegen spreche, dass es dann der dritte Untersuchungsausschuss im Bereich Innenpolitik wäre.

Für die Thüringer Parlamentsaufklärer sind noch viele Fragen offen: Solange es keine befriedigende Antwort gebe, warum zehn Menschen sterben mussten, "ist die Aufklärung nicht beendet", sagt die Linke König. Auch sei unklar, warum gerade diese Menschen Ziel der NSU-Angriffe geworden seien. Rätsel gibt den Ausschussmitgliedern der Selbstmord der mutmaßlichen Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in einem Wohnmobil voller Waffen Anfang November 2011 in Eisenach auf. Erst danach flog die Terrorzelle auf, zu deren hartem Kern die Bundesanwaltschaft die in München angeklagte Beate Zschäpe rechnet.

Zudem geht es darum, ob die aus Thüringen stammende Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn ein Zufallsopfer wurde - wie die Bundesanwaltschaft meint. Marx setzt dahinter ein Fragezeichen. Für sie hat der Bundestagsausschuss "einfach zu früh Schluss gemacht". Das soll in Thüringen nicht passieren.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort