"Befreit Tripolis"Wie der Westen Gaddafi in die Knie zwingen willGrünen-Fraktionschef Jürgen Trittin: "In Libyen droht Völkermord"

Tripolis/Madrid. Ein neuer Protestmarsch der Opposition in der libyschen Hauptstadt Tripolis wurde am Freitagabend vom Gaddafi-Regime brutal bekämpft. Milizen und Soldaten feuerten auf zehntausende Demonstranten, die zum zentralen Grünen Platz ziehen wollten und den Rücktritt des Diktators Muammar al-Gaddafi forderten

Tripolis/Madrid. Ein neuer Protestmarsch der Opposition in der libyschen Hauptstadt Tripolis wurde am Freitagabend vom Gaddafi-Regime brutal bekämpft. Milizen und Soldaten feuerten auf zehntausende Demonstranten, die zum zentralen Grünen Platz ziehen wollten und den Rücktritt des Diktators Muammar al-Gaddafi forderten. Auch in mehreren Vororten der Millionenstadt schossen Gaddafis Truppen auf Regimegegner, die ins Stadtzentrum marschieren wollten. Offenbar wurden wieder Scharfschützen eingesetzt. Es habe Dutzende Opfer gegeben, berichteten per Telefon Bewohner, die "ein neues großes Massaker" in der Stadt befürchteten.Nach Angaben von Ärzten könnte es allein in Tripolis seit Anfang der Woche annähernd 1000 Tote und Verletzte gegeben haben. UN-Menschrechtskommissarin Navi Pillay geht von "tausenden" toten oder verletzten Personen in ganz Libyen aus. Schätzungen der Opposition sprechen sogar von bisher mindestens 10 000 Todesopfern. Der zurückgetretene Justizminister Mustafa Abdel Galil warnte, dass der immer mehr in die Enge getriebene Gaddafi auch biologische oder chemische Waffen einsetzen könnte.

Ein Augenzeuge, der gerade per Handy im populären arabischen Nachrichtensender Al-Dschasira über "heftige Schießereien" in Tripolis berichtete, wurde mitten im Interview von Gaddafis Milizen angegriffen. "Her mit dem Telefon . . .", hört man noch im Hintergrund. Dann wird die Verbindung unterbrochen. Gaddafis Schergen versuchen weiter mit allen Mitteln zu verhindern, dass Informationen über die brutale Unterdrückung der Anti-Regime-Proteste an die Öffentlichkeit kommen. Das Internet ist weithin blockiert, ausländische Berichterstatter gibt es in Tripolis nicht, das Staatsfernsehen sendet nur Propaganda.

Die Regimegegner, welche inzwischen den gesamten Osten des nordafrikanischen Ölreiches in ihrer Hand haben, hatten nach dem Freitagsgebet zum "Marsch der Millionen" in Tripolis aufgerufen. Doch bereits vor den Moscheen der Hauptstadt warteten Milizen, um zu verhindern, dass sich Protestgruppen bildeten. Begannen gleich zu schießen, um die Menschen auseinanderzutreiben.

Der Despot, der seit 42 Jahren Libyen beherrscht, soll sich in Tripolis einem festungsartig ausgebauten Militärkomplex aufhalten, auf dessen Gelände eine seiner Residenzen liegt. Am Freitagabend tauchte Gaddafi jedoch überraschend, umgeben von jubelndem Fußvolk, auf dem Grünen Platz inmitten von Tripolis auf. Um zu bekräftigen: "Wir werden uns verteidigen." Und um zum Kampf gegen die "Feinde des Staates" aufzurufen.

Derweil mehren sich die Anzeichen, dass Gaddafis Macht schwindet: Immer mehr hochrangige Regime-Mitglieder, Diplomaten und Armeeoffiziere kehren ihm den Rücken; am Freitagnachmittag trat Libyens Generalstaatsanwalt zurück.

In den großen Städten Ostlibyens, wo Gaddafi die Kontrolle bereits vor Tagen verlor, demonstrierten hunderttausende Menschen auf den Straßen gegen das Regime, "gegen Diktatur" und "für die Freiheit". Auch die Parole "Befreit Tripolis!" kam auf. Das in dieser östlichen Region übergelaufene Militär und tausende junge Männer bereiten sich zum Marsch auf die Hauptstadt vor.

Stammesführer, Oppositionsvertreter und abtrünnige Gaddafi-Politiker berieten derweil über die Formierung einer Gegenregierung. Und sie versprachen, dass sie die in ihrem Einflussgebiet liegenden Ölförderanlagen beschützen und den Hahn nicht zudrehen werden. Herr Trittin, Luxemburgs Außenminister Asselborn hat das Vorgehen des Gaddafi-Regimes als Völkermord bezeichnet. Stimmen Sie ihm zu?

Trittin: Was gegenwärtig in Libyen passiert, hat zweifellos die Grenze zum Völkermord erreicht. Dafür sprechen die Luftangriffe gegen Demonstranten und der Einsatz bezahlter Söldner, die den Auftrag haben, Gaddafi-Kritiker zu töten. Wer wie Gaddafi in so brutaler Weise gegen die eigene Bevölkerung vorgeht, muss damit rechnen, am Ende vom Internationalen Strafgerichtshof zur Verantwortung gezogen zu werden.

Die Bundesregierung macht sich für ein generelles Waffenembargo, Einreiseverbote und Kontensperrungen bei Gaddafi-Leuten stark. Reicht das aus, um den Diktator zu stoppen?

Trittin: Solche Maßnahmen sind sicher nützlich, aber warum so spät? Es ist beschämend, dass die EU so lange gebraucht hat, um darüber überhaupt erst mal zu diskutieren. Auch Deutschland hat sich damit sehr schwer getan.

Wahr ist aber auch, dass Italien oder Malta im Falle von Sanktionen große Flüchtlingsströme auf ihrem Territorium befürchten.

Trittin: Einspruch. Italien fühlt sich plötzlich mit 8000 Flüchtlingen überfordert, die zudem nur für begrenzte Zeit bleiben sollen. Das ist ein vorgetäuschtes Argument. Italien hat über Jahre hinweg exzellente Beziehungen zum Gaddafi-Clan gepflegt und einträgliche Geschäfte gemacht. Das ist der eigentliche Grund, warum Italien bei harten Sanktionen zögert.

Wie viele Flüchtlinge könnte Deutschland Ihrer Meinung nach aufnehmen?

Trittin: Im Rahmen einer vernünftigen Lastenteilung zwischen den EU-Staaten wäre Deutschland sicher nicht überfordert, wenn es 500 oder 1000 Flüchtlinge vorübergehend aufnimmt. Nach UN-Recht haben solche Menschen keinen Anspruch auf politisches Asyl. Das bedeutet, wenn sich die Lage in Libyen oder Tunesien wieder beruhigt, müssen sie in ihre Heimatländer zurückkehren.

Brüssel. Die internationale Staatengemeinschaft bereitet Strafmaßnahmen gegen das libysche Regime vor. Die EU verständigte sich auf ein Paket von Sanktionen gegen das Regime von Diktator Muammar al-Gaddafi. Dazu gehören Reisebeschränkungen, Kontensperrungen sowie ein Exportverbot für Waffen und Polizeiausrüstung, hieß es am Freitag übereinstimmend aus Brüsseler EU-Kreisen und dem Auswärtigen Amt in Berlin. Die politische Weichenstellung sei erfolgt, der formale Beschluss soll Anfang nächster Woche gefasst werden, teilten EU-Diplomaten mit. Sanktionen müssen grundsätzlich von allen 27 EU-Mitgliedsstaaten einstimmig beschlossen werden.

Der UN-Sicherheitsrat wollte noch am Freitagabend in New York zu einer Sondersitzung zusammentreffen. Deutschland will sich auch dort für rasche Sanktionen einsetzen. "Die Details werden nun ausgearbeitet", hieß es in Brüssel. Mit dem Schritt reagiert die EU auf die brutale Gewalt, mit der das libysche Regime gegen Demonstranten vorgeht. Das Einreiseverbot in EU-Länder soll für Machthaber al-Gaddafi und seine Familie gelten. Ihre Konten im europäischen Ausland sollen eingefroren werden. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) sagte in Berlin: "Die Zeit der Appelle ist vorbei, jetzt wird gehandelt."

Derweil hat der Trierer Bischof und "Justizia et Pax"-Vorsitzende Stephan Ackermann die Flüchtlingspolitik der EU kritisiert und eine Neuausrichtung gefordert. Die EU solle die Chance der Demokratisierung Nordafrikas nutzen und innerhalb ihrer Grenzen in der Aufnahme von Flüchtlingen eine faire Lastenteilung vereinbaren, forderte der Bischof. dpa/red

Meinung

Sinnlose Sanktionen?

Von SZ-KorrespondentDetlef Drewes

Die Diskussion um Sanktionen gegen den libyschen Herrscherclan ist bizarr, weil sie eine Frage zu überdecken versucht, die längst gestellt werden müsste: Wie konnten die Diktatoren aus Tunesien, Ägypten und Libyen zig Milliarden in Europa gewinnbringend anlegen, während die eigene Bevölkerung dahinvegetierte? Wenn der Westen nun die Konten sperrt, ist das richtig. Die ganz andere Frage aber lautet: Durfte man diesen Betrug am libyschen Volk all die Jahre zuvor wissentlich übersehen? Die naheliegende Forderung nach Sanktionen übersieht deren kurzfristige Wirkungslosigkeit. Nötig sind aber schnelle Konsequenzen, um die Menschen in Libyen vor ihrem ausgerasteten Staatschef zu schützen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort