Auf der Zielgeraden

Brüssel · Der Machtkampf um den Posten des EU-Kommissionspräsidenten ist im vollen Gange. Dabei geht es nicht nur um die Frage: Juncker, Ja oder Nein? Sondern darum: Wer setzt sich durch: das Parlament oder die Staatenlenker?

Nur zwei Tage nach den Europawahlen ist der Kampf um die Top-Jobs in der EU gestern voll entbrannt. Wenige Stunden bevor die Staats- und Regierungschefs am Abend zu einem Gipfeltreffen nach Brüssel kamen, stellten sich die Fraktionsvorsitzenden im Europäischen Parlament hinter den Wahlsieger vom Sonntag, Jean-Claude Juncker. Man habe ihm ein "klares Mandat" erteilt, mit allen politischen Gruppen zu verhandeln, sagte der Chef der Sozialdemokraten, Hannes Swoboda. Juncker braucht mindestens 376 der 751 Stimmen, um von den Volksvertretern zum neuen Kommissionspräsidenten gekürt zu werden.

Wenige Stunden vor dem Sondergipfel der 28 Staats- und Regierungschefs kommt der Beschluss jedoch einer Kampfansage gleich. Denn der Lissabonner Vertrag sieht vor, dass der Nachfolger von José Manuel Barroso ab 1. November "im Lichte des Wahlergebnisses" von den Chefs vorgeschlagen werden muss. Im Parlament befürchtet man allerdings, dass die Ministerpräsidenten sich über diese Klausel hinwegsetzen, weil in diesem Kreis weder Schulz noch Juncker auf uneingeschränkte Unterstützung stoßen. Gerade der britische Premier David Cameron und der ungarische Regierungschef Viktor Orbán gelten als erbitterte Gegner des früheren Euro-Gruppen-Chefs Juncker. Beide könnten zwar überstimmt werden, da zur Nominierung eines neuen Kommissionspräsidenten lediglich eine qualifizierte Mehrheit notwendig ist. Vor allem Kanzlerin Angela Merkel wird aber nachgesagt, keine Entscheidung zulassen zu wollen, die London brüskieren würde. Sie sprach sich gestern in Brüssel für eine breite Mehrheit im Kreis der Staatenlenker aus.

Die könnte allerdings schwierig werden. Juncker gilt in den Reihen der ehemaligen Kolleginnen und Kollegen im Regierungsamt - der frühere luxemburgische Premier hatte den EU-Gipfeln selbst 18 Jahre lang angehört - als Vertreter einer harten Sparlinie. Genau die wollen aber Cameron und Frankreichs Staatspräsident François Hollande auf den Prüfstand stellen. "Wir brauchen keinen Sparzwang, sondern Wachstum", hatte Hollande am Montagabend in einer Fernsehansprache gesagt, nachdem seine Sozialisten tags zuvor weit abgeschlagen hinter dem rechtsnationalen Front National gelandet waren. Cameron unterstützt ihn in diesem Punkt und will die beschlossenen Auflagen zur strikten Haushaltssanierung lockern - bis sich die Wirtschaft erholt habe.

Beim Treffen am Abend wurden zwar noch keine Beschlüsse erwartet, auch die Personalie Juncker wolle man frühestens beim Gipfel Ende Juni beschließen, teilten Diplomaten vor Beginn mit. Allerdings soll intern die Ausrichtung der Gemeinschaft sehr wohl besprochen werden. Ratspräsident Herman Van Rompuy habe entsprechende Überlegungen in einem Thesenpapier zusammengefasst, das er den Staats- und Regierungschefs vorlegen werde. "Wenn man sich über die künftigen Grundlinien der EU-Politik verständigt hat, dann wird man sich fragen, wer diese am besten als Chef der Europäischen Kommission umsetzen dürfte", sagte ein hoher EU-Diplomat gestern.

Eine schnelle Entscheidung für Juncker erscheint auch deswegen unwahrscheinlich, weil der EU-Gipfel in den nächsten Wochen ein größeres Paket an Top-Jobs schnüren muss. Neben dem Posten des Kommissionspräsidenten werden im Herbst auch die Jobs des Parlamentschefs, des Ratspräsidenten, des Hohen Beauftragten für die Außen- und Sicherheitspolitik sowie ein möglicherweise hauptamtlicher Vorsitzender der Euro-Gruppe zu besetzen sein. Hinter den Kulissen spekuliert man, ob die Kanzlerin der SPD und damit auch den europäischen Sozialdemokraten eine Unterstützung für Juncker mit einem "verlockenden Angebot" für Martin Schulz abkaufen könne. Der bisherige Parlamentspräsident und Spitzenkandidat der Sozialdemokraten für die EU-Wahl ist als Vizepräsident der EU-Kommission im Gespräch. Die Idee stößt zumindest im EU-Parlament auf Gegenliebe. Fraktionschef Swoboda: "Es wird sicher so sein, das wir für Martin Schulz eine starke Position in der Kommission verlangen. Aber die Nummer Eins wird Herr Juncker sein."

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HintergrundDer Präsident der EU-Kommission leitet die Arbeit der größten EU-Behörde mit etwa 33 000 Beamten. Politisch ist sie für die gesamte EU mit 500 Millionen Einwohnern von großer Bedeutung. Sie kann unter anderem Rechtsvorschriften vorschlagen, verwaltet die Finanzen des EU-Haushalts, kontrolliert die Verwendung des Geldes und ist "Hüterin der EU-Verträge". Der Präsident leitet die Sitzungen und organisiert die Arbeit der Kommission. Er bekommt ein Grundgehalt von 25 351,76 Euro. Dazu kommt eine Wohnungszulage in Höhe von 3802 Euro. Für Repräsentationsaufgaben erhält er weitere 1418,07 Euro pro Monat. dpa

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