Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Berlin. Das Gerücht geht um, die Kanzlerin müsse ins Krankenhaus. Sie hat überraschend ihren Auftritt vor dem Deutschen Bankentag abgesagt. Politik, Wirtschaft, Börse und Medien sind in Alarmbereitschaft. Nun hält sie ihre Rede doch. Man sieht Angela Merkel an diesem Donnerstag, dem 31. März 2011 keine Schmerzen, keine Schwäche an

Berlin. Das Gerücht geht um, die Kanzlerin müsse ins Krankenhaus. Sie hat überraschend ihren Auftritt vor dem Deutschen Bankentag abgesagt. Politik, Wirtschaft, Börse und Medien sind in Alarmbereitschaft. Nun hält sie ihre Rede doch. Man sieht Angela Merkel an diesem Donnerstag, dem 31. März 2011 keine Schmerzen, keine Schwäche an. Sie trifft auch noch Montenegros Ministerpräsidenten Igor Luksic und telefoniert mit Birmas Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Also wohl falscher Alarm.Am Freitag dann die Nachricht, dass die Bundeskanzlerin am Vorabend am Knie operiert wurde. Am Sonntag eröffnet sie gestützt auf Krücken die Hannover-Messe.

Merkel hat keine Zeit. Nicht einmal für eine Krankheit. Ein Blick in ihren Terminkalender wirft die Frage auf, wie ein Mensch ein solches minutengetaktetes Programm durchhalten kann. Und warum er das will.

Ein Beispiel: Merkel ist im Juli auf Afrika-Tour. Drei Länder in drei Tagen. In Nairobi hat sie nur elf Termine in neun Stunden. Für ihre Verhältnisse ist das wenig. So kann sie sich vor ihrem erstem Treffen mit Präsident Mwai Kibaki und später auf dem Weiterflug nach Angola mit den Querelen zwischen Union und FDP um Steuersenkung und Vorratsdatenspeicherung befassen. Über allem aber schwebt das Schulden-Drama in Europa.

Während Merkel in Nairobi in Anspielung auf die jüngere blutige Vergangenheit Kenias vor Studenten über die Macht der Versöhnung einst verfeindeter Gruppen und die deutsch-deutsche Geschichte spricht, tagen in Brüssel die EU-Finanzminister. Während der Podiumsdiskussion zieht die Kanzlerin verstohlen ihr Handy aus der Hosentasche und liest eine Nachricht. Gerade kam die Eil-Meldung, dass es wenige Stunden nach ihrer Rückkehr aus Nigeria einen EU-Sondergipfel zu Griechenland geben soll. Merkel ist dagegen.

Zu dem Gipfel kommt es dann eine knappe Woche später - nach den deutsch-russischen Regierungskonsultationen mit Präsident Dmitri Medwedew in Deutschland und einem eilig angesetzten, bis in die Nacht dauernden Treffen mit Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy und dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet.

Wie viel Zeit der Kanzlerin wohl zum Innehalten bleibt, bevor sie folgenschwere Beschlüsse für die eigene sowie andere Nationen fasst?

Man glaubt ihr anzusehen, dass sie kaum mehr als drei, vielleicht vier Stunden Schlaf pro Nacht haben kann. Ob sie wenigstens im Urlaub frei hat, will eine Studentin von Merkel wissen, die per Video-Podcast antwortet: "Ich kann ja nicht einfach zwei oder drei Wochen von der Bildfläche verschwinden. Ich bin eigentlich immer im Dienst." Und tatsächlich: Die Erholung, die sich Merkel beim Wandern in den Bergen erhofft hatte, wurde in diesen Tagen immer wieder durch die Krisen dieser Welt gestört. Man fragt sich, welche Motivation sie hat, Familie und Freunde wenig zu sehen und kein privates Leben mehr zu führen? Geld kann es kaum sein. Manager, Konzernchefs, die Merkel auf Auslandsreisen begleiten, können über das Kanzlerin-Gehalt nur lachen. Sie bekommen oft ein Vielfaches. Merkel sagt: Ich nehme diese Aufgabe an. Sie ist anspruchsvoll. Aber wenn man etwas gestalten kann, ist gerade das Schöne, dass man Möglichkeiten hat, den Dingen mit anderen eine gewisse Prägung zu geben. Die Währung, in der sie und andere Spitzenpolitiker bezahlt werden, ist die Macht. Der Preis, den sie dafür zahlen, heißt Zeit. Sie haben keine mehr.

Bei aller Kritik an der Koalition findet der Präsident des Bundesverbandes der Industrie, Hans-Peter Keitel, dass die Politiker heute zu stark gefordert sind. Die "Umdrehungsgeschwindigkeit" und die "Daueröffentlichkeit" machten es ihnen schwer, sich Zeit zu nehmen, die Dinge zu überdenken. Keitel begleitet seit vielen Jahren deutsche Kanzler. "Mit Helmut Kohl waren wir 14 Tage unterwegs. Heute werden Auslandsreisen über Nacht im Flugzeug gemacht."

Minister oder Abgeordnete - sie haben wenig Zeit, die Beschlüsse ausführlich zu prüfen, für die sie geradezustehen haben. Sie müssen sich zeitgleich um viele Themen kümmern. In Merkels schwarz-gelbem Kabinett gab es Rücktritte und Wechsel. Ein Regierungsmitglied erzählt, dass es immer weniger Zeit zum Einarbeiten gebe. Unterlagen für öffentliche Auftritte lägen zum Teil erst kurz vorher vor. Bleibe oft nur die Nacht, um sich auf das einzustellen, was man der Bevölkerung mitzuteilen hat.

Politiker sichten ihre E-Mails noch während Gesprächen, damit der elektronische Postkasten mit seiner unerbittlichen Speicherkapazität danach nicht so voll ist. Sie simsen, statt später anzurufen, weil später auch keine Zeit ist. CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt sagt: "Die Zeiten sind vorbei, als Franz Josef Strauß im Gasthaus saß, es kein Handy gab und man beim Wirt anrufen musste, um zu erfahren, ob der Ministerpräsident zu sprechen ist."

Wenig hört man da von Agrar- und Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU). Die Bayerin stört es, wie sehr "Durchstecherei und Geschwätzigkeit auch im politischen Betrieb zugenommen haben". Sie beschreibt auch den Druck durch die Medien und die vernetzte Welt. Internet, Twitter, Facebook haben den Politikbetrieb extrem beschleunigt.

Das bestätigt SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. Er sitzt in seinem Berliner Büro mit Blick auf die Spree und hat 30 Minuten Zeit für das Gespräch. Sein Mitleid für diese Bundesregierung und ihre Kanzlerin hält sich in Grenzen. Doch der frühere Kanzleramtschef (unter Gerhard Schröder) und Außenminister (unter Merkel) erkennt an: "Die Finanzkrise ist seit September 2008 eine Dauerbelastung. Die Politik wurde vor eine Aufgabe gestellt, für die es kein Drehbuch gibt. Wie die Banken sind die Politiker hier im Stresstest."

Steinmeier resümiert: "Die Arbeit eines Oppositionsführers ist eine andere als die eines Außenministers, aber es ist nicht weniger Arbeit. Es ist aber ein anderes Lebensgefühl, nachts zuhause zu schlafen und nicht mehr nur in der Welt unterwegs zu sein mit einem Touchdown in Berlin." Er wundert sich ein wenig, dass der Körper sich an zwei bis drei Stunden Schlaf gewöhnen kann. "Ob's auf Dauer gesund ist, ist 'ne andere Frage."

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