Auf der Suche nach dem perfekten Treffer

Leiden. Es ist 18.47 Uhr, als in der Zentrale von Eurotransplant Alarm ausgelöst wird. Zu diesem Zeitpunkt weiß der Patient mit der internen Kennung "246891" (alle einen Fall betreffenden Daten wurden verändert) noch nicht, dass sich wenige Minuten später sein Leben völlig ändern wird

Leiden. Es ist 18.47 Uhr, als in der Zentrale von Eurotransplant Alarm ausgelöst wird. Zu diesem Zeitpunkt weiß der Patient mit der internen Kennung "246891" (alle einen Fall betreffenden Daten wurden verändert) noch nicht, dass sich wenige Minuten später sein Leben völlig ändern wird. Denn die karge Meldung, die in dieser Minute eintrifft, beschert ihm nach Jahren des Bangens und Hoffens ein Leben ohne Dialyse. Es ist der Schreibtisch von Annemieke Poot, einer von vier sogenannten Allokations-Mitarbeitern in der Einsatzzentrale, auf deren Schreibtisch die Meldung landet. Seit zwei Jahren arbeitet sie hier im niederländischen Leiden unweit von Den Haag. Wie alle anderen 16 Mitarbeiter hat sie eine fünfmonatige Ausbildung hinter sich, muss jedes Jahr eine Prüfung ablegen, um zu zeigen, dass sie die Richtlinien von Eurotransplant und seinen Trägern wie der Bundesärztekammer kennt und umsetzen kann. "Unsere Mitarbeiter bestimmen nicht über die Verteilung der Spenderorgane", sagt Professor Axel Rahmel, der deutsche Kardiologe, der seit sieben Jahren die Einrichtung als medizinischer Direktor leitet. "Sie organisieren lediglich, dass das passende Organ zum passenden Empfänger gelangt." Und dann setzt er mit Blick auf den Skandal um manipulierte Transplantationen in deutschen Kliniken hinzu: "Niemand kann sich ein Organ in die eigene Tasche holen."

Seitdem im Sommer 2012 Unregelmäßigkeiten aufgedeckt wurden, ringt man bei Eurotransplant ebenso wie in den 72 Transplantationszentren der sieben angeschlossenen europäischen Staaten (Deutschland, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Österreich, Slowenien und Kroatien) um das Vertrauen der Spender. Der Skandal hat massive Schäden hinterlassen. "Es ist ein Drama, eine Katastrophe", sagt Rahmel. 150 Organspender aus Deutschland wurden im Januar und Februar 2013 gemeldet. In den gleichen Monaten des Vorjahres waren es noch 173. Die Bereitschaft zur Spende sinkt. Dabei werden die Organe dringend gebraucht. Etwa 16 000 Patienten warten auf ein neues Herz, eine Lunge, Nieren, Leber oder eine Bauchspeicheldrüse. "Wenn man die Spenderzahlen verdoppeln könnte, wäre uns sehr geholfen", sagt Rahmel.

Mit falschen Patientendaten hatten deutsche Transplantationsmediziner versucht, Eurotransplant zu täuschen, damit die Betroffenen auf der Warteliste nach oben rutschten. Dazu wurden die medizinischen Daten desjenigen, der bevorzugt werden sollte, durch die Angaben eines Schwerkranken ersetzt. Eurotransplant unterstützt mit seinen Experten die Prüfungskommission bei der Bundesärztekammer bei den jetzt stattfindenden Vor-Ort-Kontrollen der Transplantationszentren. So werden zum Beispiel Zentren, in denen besonders vielen Leberkranken auch ein Nierenleiden samt Dialyse bescheinigt wurde, gemeldet. Hans Lilie, Vorsitzender dieser Ständigen Kommission für Organtransplantation, weist nach seinen Prüfungen den Verdacht eines systematischen Versagens der Aufsicht zurück: "Ein systematisches Versagen wäre gewesen, wenn so etwas in jedem Transplantationszentrum passiert wäre. Doch bis jetzt lassen sich die Personen, die getrickst haben, an einer Hand abzählen."

Bei Eurotransplant ist man sich nicht einmal sicher, ob den Empfängern der Organe tatsächlich geholfen wurde. "Der perfekte Treffer" - das hat man sich in Leiden als Motto gegeben. Soll heißen: Wer falsche Daten liefert, bekommt wohlmöglich auch das falsche Organ. Denn das wichtigste Dokument zur Verteilung ist die sogenannte Match-Liste. Sie wird vom Eurotransplant-Computer erstellt, nachdem die medizinischen Daten des Spenderorgans eingetroffen sind. Dabei werden medizinische Dringlichkeit, Blutwerte, Zustand der Lunge, Leber oder Niere und viele weiter Informationen berücksichtigt. Je nachdem, wie gut das Organ aufgrund dieser Angaben zum Empfänger passt, werden etwa für die Nierentransplantation bis zu 400 Punkte vergeben. Jeder Tag auf der Warteliste bringt noch einmal 0,09 Punkte. Auch die Länge des Transportweges fließt mit bis zu 300 Punkten ein. Je höher die Punktzahl, desto höher die Position auf der Match-Liste. Sie aber gilt nur für das bereitgestellte Organ.

Besondere Regelungen betreffen Kinder und Patienten mit seltenen Blutgruppen oder Gewebetypen. Für hochdringliche Patienten erfolgt eine vorrangige Organzuteilung. Drei verschiedene Ärzte müssen bestätigen, ob eine besondere Dringlichkeit vorliegt. "Hier kann man gar nicht eingreifen oder jemanden gegen die Angaben der Datenbank bevorzugen", betont man in Leiden. Es würde auch gar nichts bringen. Denn nur wenn ein Organ wirklich passt, hilft es dem Empfänger auch und arbeitet - im Schnitt bis zu 17,7 Jahren. Solche optimalen Treffer sind bei 98 von 100 Nieren inzwischen an der Tagesordnung. Die Statistik zeigt aber auch: Wenn ein Organ eingepflanzt wird, das nicht optimal ist, funktioniert es deutlich kürzer - im Schnitt bis zu sechs Jahre weniger.

Die hochkomplexe Datenbank in Leiden kennt zwei wesentliche Ziele: "Wir berücksichtigen die Dringlichkeit der Transplantation und wollen eine möglichste lange Funktion des Organs sicherstellen", betont Rahmel und bemüht sich damit, angeknackstes Vertrauen bei den Organspendern wieder herzustellen. Immerhin teilte man im vergangenen Jahr rund 7000 Organe zu.

Inzwischen ist es 19.30 Uhr geworden. Schon vor einer halben Stunde hat Annemieke Poot vom Computer eine Matchliste für die neue Organspende erhalten und mit dem zuständigen Transplantationszentrum telefoniert. Von dort wurde vor wenigen Minuten grünes Licht gegeben und der Transport der Spender-Niere organisiert. Gegen 22 Uhr soll die Operation beginnen, kurz nach Mitternacht wird ein schwerkranker Patient glücklich mit einem neuen Organ aufwachen. "Wenn man eine Spende wirklich dorthin vermitteln konnte, wo sie gebraucht wird, ist das ein gutes Gefühl", sagte Eurotransplant-Mitarbeiterin Poot. "Aber es gibt natürlich auch eine traurige Seite an dem Job." Irgendwie könne sie nie vergessen, dass hinter dem nüchternen Wort "Spender" immer auch ein Mensch steht, der verstorben ist. Doch ein wenig wird das eben durch das Wissen aufgewogen, dass ein anderer Patient nun weiterleben kann. "Ich wollte Menschen helfen. Das erlebe ich hier jeden Tag." Foto: Drewes

"Niemand kann sich

ein Organ in

die eigene Tasche holen."

Axel Rahmel, Medizinischer Direktor von Eurotransplant

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