Auf der Rutschbahn nach BerlinUm 21.48 Uhr war der Regierungsumzug beschlossen

Berlin. Im Mai war der Bruch des Bonn-Berlin-Gesetzes amtlich. Da stellte ein Bericht des Innenministeriums nicht nur fest, dass der doppelte Regierungssitz rund neun Millionen Euro im Jahr kostet, sondern auch, dass inzwischen die Zahl der Beschäftigten in Berlin deutlich über der in Bonn liegt. 10 000 arbeiten an der Spree gegenüber 8000 am Rhein

Berlin. Im Mai war der Bruch des Bonn-Berlin-Gesetzes amtlich. Da stellte ein Bericht des Innenministeriums nicht nur fest, dass der doppelte Regierungssitz rund neun Millionen Euro im Jahr kostet, sondern auch, dass inzwischen die Zahl der Beschäftigten in Berlin deutlich über der in Bonn liegt. 10 000 arbeiten an der Spree gegenüber 8000 am Rhein. Das 1994 beschlossene Gesetz sieht eigentlich vor, dass die Mehrheit der Stellen in Bonn sein soll. Doch darüber ist die Zeit hinweggegangen. Der große Aufschrei aus Bonn blieb trotzdem aus, womöglich, weil man mit der Telekom und anderen Konzernen, mit 22 UN-Institutionen und zahlreichen Bundesbehörden wirtschaftlich inzwischen weit besser dasteht als die Armenhauptstadt im Osten. Man werde nicht gleich wegen jeder Verlagerung eines Schreibtisches die Gesetzestreue der Bundesregierung in Zweifel ziehen, sagt Oberbürgermeister Jürgen Nimptsch (SPD, Foto: dapd). Es ist aber mehr als ein Schreibtisch.Die Minister wollen alle wichtigen Beamten in Rufnähe wissen und haben daher kontinuierlich Stellen am Rhein abgebaut. Wer jung ist und noch etwas werden will, geht dorthin, wo die Musik spielt - nach Berlin. Dort werden im Jubiläumsjahr des legendären Hauptstadt-Doppelbeschlusses vom 20. Juni 1991 weitere Fakten geschaffen. Gerade hat Umweltminister Norbert Röttgen, immerhin CDU-Landesvorsitzender in Nordrhein-Westfalen, einen rund 50 Millionen Euro teuren Neubau bezogen. Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) lässt für 200 Millionen Euro neben dem Kanzleramt bauen, Bildungsministerin Annette Schavan will sich in einem privat-öffentlichen Neubau einmieten. Selbstverständlich haben alle diese neuen Gebäude gleich auch schon Platz für die Bonner. Es ist also vorgesorgt für den Komplettumzug. Das Bonner Argument, das Pendeln sei billiger als Neubauten in Berlin, zieht nicht mehr, wenn die Neubauten stehen. Dabei haben formal sechs Ministerien sogar ihren Hauptsitz am Rhein.

Darunter auch das Verteidigungsministerium auf der Bonner Hardthöhe. Doch eine Kommission zur Reform der Bundeswehr riet im letzten Jahr, das Ministerium personell zu halbieren und in Berlin zusammenzuführen. Bonn hätte das 2700 Stellen gekostet. Angesichts der Proteste seiner Militärs kassierte Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) die Idee zwar zunächst wieder ein. Doch Nachfolger Thomas de Maizière (CDU) ist sowohl Befürworter Berlins als auch effizienter Verwaltungsstrukturen. Wie er mit dem Vorschlag umgeht, ist noch offen. Als letzte Rückzugslinie verlangte Oberbürgermeister Nimptsch, wenigstens Verwaltungseinheiten, die sich mit europäischer Verteidigungspolitik befassen, in Bonn zu belassen.

Es gebe die Rutschbahn nach Berlin längst, sagt die Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Petra Merkel (SPD), auf Anfrage. "Die Frage ist nur, ob man das auf ewig so unstrukturiert weiterlaufen lässt oder das Problem systematisch im Sinne effizienter Lösungen angeht." Tatsächlich führt der Personalschwund nach dem Zufallsprinzip in manchen Ministerien dazu, dass die Bonner Dienststellen sich nicht nur überflüssig und abgehängt vorkommen, sondern es tatsächlich auch sind. Merkel ist Abgeordnete des Berliner Wahlkreises Charlottenburg. Trotzdem betont die Politikerin, dass Bonn eine verlässliche und langfristige Perspektive verdient habe. Beim legendären Hauptstadtbeschluss im Bonner Wasserwerk sei eine "faire Arbeitsteilung" versprochen worden, erinnert Merkel. Und die sei auch ohne einen doppelten Regierungssitz möglich. Ihr Vorschlag: Bonn solle als "Bundesstadt" mit wichtigen Verwaltungsfunktionen weiter gestärkt werden. Man solle im Konsens mit Nordrhein-Westfalen ausloten, was dafür sinnvollerweise am Rhein angesiedelt werde, um im Gegenzug die Ministerien in Berlin zu bündeln.

Zwar sagt OB Nimptsch, seine Stadt stehe der "Ausschöpfung von Effizienzpotenzialen nicht im Wege", doch bei einem offenen Angriff auf das Bonn-Berlin-Gesetz sind die alten Fronten sofort wieder da. Die einzige Schwäche der Regelung liege darin, dass es Menschen gebe, die das Wohl Berlins und Brandenburgs vor das der Republik stellten, giftet Nimptsch. Pünktlich zum Jubiläum des Hauptstadtbeschlusses formieren sich die Lager wieder. Freilich steht das Thema in absehbarer Zeit gar nicht auf der Tagesordnung. "Wir stehen zum Bonn-Berlin-Gesetz", heißt es eindeutig im schwarz-gelben Koalitionsvertrag. Kanzlerin Angela Merkel hat schon 2010 erkennen lassen, dass sie "derzeit" keine Lust habe, an dem Problem zu rühren. Hinter vorgehaltener Hand sagen die meisten Bundespolitiker, die Sache werde sich von selbst erledigen. In 20, manche meinen auch in 50 Jahren, werde es de facto kein Ministerium mehr in Bonn geben. Nur noch das Gesetz. Berlin. Rita Süssmuth spannt die Abgeordneten lange auf die Folter. Im Bonner Wasserwerk, dem Ausweichquartier des Bundestags, steigt die Nervosität von Minute zu Minute. Um 21.48 Uhr wird endlich ein Zettel auf das Podium gereicht. Die Parlamentschefin verkündet das Ergebnis: 337 Stimmen für Berlin, 320 für Bonn. Mit ganzen 17 Stimmen hat die vorher favorisierte Stadt am Rhein bei der Abstimmung über den Regierungs- und Parlamentssitz verloren.

Von neun Uhr morgens an hatte man zehn Stunden lang leidenschaftlich gestritten. Der rhetorische Glaubenskrieg über Metropole oder Provinz, Föderalismus oder Zentralismus wurde ohne feste Parteilinien ausgefochten. Bundeskanzler Helmut Kohl stand an der Seite von Willy Brandt und Gregor Gysi für Berlin. Für Bonn warfen sich Süssmuth, Johannes Rau, Theo Waigel oder Otto Graf Lambsdorff in die Bresche. Mehr als 100 Redner gingen ans Pult. Die eigentliche Hauptstadt-Frage war schon im Einigungsvertrag entschieden worden. Notwendig wurde die Debatte am 20. Juni 1991, weil tags zuvor der Vorschlag, über den Regierungssitz per Volksabstimmung zu entscheiden, keine Mehrheit fand.

Drei Alternativen standen zur Wahl: der am Ende angenommene Antrag sah vor, Regierung, Parlament und zentrale Bundesbehörden nach Berlin zu verlegen. Die Bonn-Befürworter stritten für die Lösung: Parlament und Regierung bleiben am Rhein, nur Bundespräsident und Bundesrat wechseln an die Spree. Ein chancenloser Kompromiss warb für die Trennung von Parlament in Berlin und Regierung in Bonn.

Nach einem flammenden Plädoyer von Wolfgang Schäuble erhoben sich Berlin-Anhänger aus allen Fraktionen begeistert von den Sitzen. "In Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands", rief er mit viel Pathos in den Saal. Willy Brandt griff sogar zu bedenklichen Vergleichen. In Frankreich sei auch niemand auf die Idee gekommen, nach der Befreiung von Paris die Hauptstadt Vichy, dem Sitz der mit Hitler-Deutschland kollaborierenden Regierung von Marschall Pétain, zu belassen. Der SPD-Ehrenvorsitzende provozierte damit wütenden Widerspruch.

Wohl zehn Jahre werde die volle Umsetzung dauern, zeigte sich Kohl damals überzeugt. Für die pessimistische Vorhersage bekam der Kanzler von den Berlin-Enthusiasten, die am liebsten sofort umgezogen wären, viel Kritik. Doch Kohl lag fast richtig mit seiner Einschätzung.

"Wir stehen der "Ausschöpfung von Effizienz- potenzialen nicht im Weg."

Der Bonner Oberbürgermeister Jürgen Nimptsch

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