Assad spielt auf der Klaviatur westlicher Ängste

Istanbul · Hätte sich eine „Koalition der Willigen“ Ende 2011 zu einem Militärschlag gegen Assad entschlossen, wäre das Blutvergießen vielleicht gestoppt worden. Jetzt ist es viel schwieriger. Das weiß auch Syriens Machthaber Assad.

Unter Einsatz ihres Lebens versuchen die Chemiewaffen-Experten der UN herauszufinden, ob die syrische Armee Rebellenhochburgen mit Giftgas bombardiert hat. Bereits am ersten Tag ihrer Mission wurden sie von Heckenschützen angegriffen. Die Fahrzeugkolonne geriet gestern nach UN-Angaben genau in dem Moment unter Beschuss, als der Konvoi von der Zone, die die Regierung kontrolliert, in das Gebiet der Rebellen fahren wollte.

Regimegegner berichteten, regierungstreue Milizen hätten vom Messe-Militärflughafen aus das Feuer auf das UN-Team eröffnet. "Sie wollen verhindern, dass die Inspekteure zu uns kommen", sagte ein Revolutionär, der nach eigenen Angaben am Ortseingang von Moadhamijat al-Scham auf die UN-Mitarbeiter wartete. Das Ergebnis der Experten-Untersuchung könnte das Zünglein an der Waage sein, wenn Nato-Staaten wie Großbritannien, Frankreich, die USA und die Türkei entscheiden, ob sie einen Militäreinsatz in Syrien wagen wollen.

Gestern Abend sagte bereits US-Außenminister John Kerry, der Einsatz von Giftgas sei trotz aller Versuche in Damaskus, dies zu leugnen, "unbestreitbar". Die USA und die internationale Gemeinschaft müssten antworten. Präsident Obama werde in Kürze darüber entscheiden. "Was wir in der vergangenen Woche in Syrien gesehen haben, schockiert das Bewusstsein der Welt", sagte Kerry. Die USA verfügten über weitere Beweise, die sie später veröffentlichen wollten.

Sollte sich für einen Militärschlag tatsächlich eine "Koalition der Willigen" zusammenfinden, so wie 2003 vor der Invasion im Irak, dann wäre das der entscheidende Wendepunkt in dem Bürgerkrieg, der schon weit über 100 000 Tote gefordert hat.

Anders als damals im Irak, als Propagandalügen über angebliche Massenvernichtungswaffen als Kriegsgrund herhalten mussten, plant derzeit aber niemand, Bodentruppen zu schicken. Die Szenarien, die bislang diskutiert werden, sehen eine Kriegsführung aus der Distanz vor, mit minimalem Risiko für die angreifenden Armeen. Das bedeutet wahrscheinlich den Einsatz von Marschflugkörpern, die Zerstörung der syrischen "Scud"-Raketen und Chemiewaffen-Arsenale, die Durchsetzung einer Flugverbotszone, eventuell flankiert von einer weiteren Aufrüstung bestimmter Rebellen-Brigaden.

Zu möglichen Angriffen auf Lager radikal-islamistischer Brigaden hat sich bislang niemand geäußert. Doch die Frage drängt sich auf, wie die westlichen Strategen sonst verhindern wollen, dass die Kampfverbände der Terroristen von der Schwächung der Regimetruppen durch eine Militärintervention profitieren.

"Es gibt keine Koordination mit der Allianz, was die Auswahl bestimmter militärischer Ziele angeht", sagt Chalid Chodschja, ein führendes Mitglied der oppositionellen Nationalen Syrischen Allianz. Er vermutet, dass sich westliche Armeen bei einem möglichen Militärschlag gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad darauf beschränken würden, "den extremistischen Gruppen zu drohen".

Die Diplomaten und Militärs, d ie in diesen Tagen Strategien entwickeln, wie man den Beschuss von Wohnvierteln mit Artillerie und Raketen stoppen kann, ohne ein gefährliches Machtvakuum zu hinterlassen wie einst im Irak, haben keine leichte Aufgabe. Nachdem mehrere Anläufe, eine politische Lösung zu erreichen, ins Leere gelaufen sind, ist es unendlich schwer, eine Intervention zu planen, die am Ende nicht verbrannte Erde hinterlässt.

Einige Beobachter glauben, dass die Einrichtung einer Flugverbotszone vor eineinhalb Jahren noch das Mittel der Wahl gewesen wäre. Ob dies heute, wo sich Dutzende verschiedene Milizen und Rebellenbrigaden gebildet haben, noch gelingen könnte, sei dagegen fraglich.

Diese Zweifel westlicher Politiker kennt auch Präsident Baschar al-Assad. Während in London und Washington derzeit an möglichen Szenarien gearbeitet wird, sagt er einer russischen Zeitung: "Haben sie nicht verstanden, dass alle diese Kriege nicht dazu geführt haben, dass sie von den Menschen in dieser Region geschätzt werden oder dass diese an ihre politischen Grundsätze glauben?"

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