Arbeit „Viele Politiker wissen nicht, wie Hartz IV funktioniert“

Berlin · Der Arbeitsagentur-Chef hält Sanktionen bei der Grundsicherung für unabdingbar, kann sich aber Verbesserungen bei der Lebensleistungsgerechtigkeit vorstellen.

  Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit, warnt davor, Hartz IV abzuschaffen.

Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit, warnt davor, Hartz IV abzuschaffen.

Foto: dpa/Daniel Karmann

Hartz IV abschaffen? Davon hält der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, gar nichts. Im Interview plädiert Scheele aber für Korrekturen, um Ungerechtigkeiten zu vermeiden

Herr Scheele, Hartz IV wird in der SPD nur noch mit „Drohung“ und „Demütigung“ übersetzt. Was halten Sie davon?

SCHEELE Es gibt auch viele andere Stimmen in der SPD. Ich bin schon erstaunt, mit welcher Vehemenz von unterschiedlichen Seiten gegen das System der Grundsicherung polemisiert wird. Offenbar wissen viele in der Politik nicht, wie die Grundsicherung wirklich funktioniert.

Fest steht, dass man schon nach relativ kurzer Erwerbslosigkeit in die Grundsicherung abrutschen kann und Hartz IV deshalb auch in der Mittelschicht ein Angstfaktor ist.

SCHEELE Die Zahl der Übergänge von Arbeitslosen in die Grundsicherung geht kontinuierlich zurück. Ich sehe aber durchaus Diskussionspotenzial. Zum Beispiel bei der Gleichbehandlung von jemandem, der 30 Jahre gearbeitet hat, mit dem, der noch nie gearbeitet hat. Der schnelle Übergang in die Grundsicherung entwertet lange Arbeitsbiografien. Das wird als ungerecht empfunden. Darüber kann Politik nachdenken, ohne gleich das ganze System abzuschaffen.

Kritiker sagen auch, das System fordert deutlich mehr, als dass es fördert. Sehen Sie hier eine Schieflage?

SCHEELE Nein. Grundsicherungs-Empfänger bekommen die Miete und eine Grundsicherung auch für die Familie. Bei einem Ehepaar mit einem fünfjährigen Kind sind das 1580 Euro im Monat. Ein Beschäftigter muss mehr als 2000 Euro verdienen, um nach allen Abzügen darauf zu kommen. Eine insgesamt angemessene Förderung ist das allemal.

Nach wie vor ist aber etwa jeder dritte Erwerbslose länger als ein Jahr ohne Job. Was läuft da bei den Jobcentern schief?

SCHEELE Die Langzeitarbeitslosigkeit geht schon seit geraumer Zeit stärker zurück als bei Kurzzeitarbeitslosen. Fast zwei Drittel der Arbeitsuchenden in der Grundsicherung haben allerdings keine Berufsausbildung, ein Drittel ist älter als 50. Ihre Lebenslage deckt sich kaum mit den Anforderungen des Arbeitsmarktes. Daran würde auch ein anderes Grundsicherungssystem nichts ändern. Keine Ausbildung, Gesundheitsprobleme, vielleicht noch Sprachdefizite – jedes dieser Merkmale verringert die Chance auf Eingliederung.

Genau dagegen sollen die Jobcenter angehen. Aber da ist noch Luft nach oben.

SCHEELE Wir haben in der Tat ein zu kompliziertes Verwaltungssystem. Wir haben schon mehrfach Vorschläge für Pauschalierungen oder erleichterte Anrechnungsvorschriften für Einkommen gemacht. Aber politisch ist bisher nichts passiert. Deshalb wundert es mich so, dass jetzt ein großer Wurf angekündigt wird, anstatt umzusetzen, was man zugunsten der Arbeitsvermittlung längst hätte verbessern können.

Dafür funktionieren die Bestrafungen. Im ersten Halbjahr wurden von den Jobcentern fast 450 000 Sanktionen verhängt.

SCHEELE Jede Sanktion beschwert den Betroffenen, das verstehe ich. Allerdings werden im Monat nur drei Prozent der Leistungsberechtigten sanktioniert. Gemessen an den vier Millionen arbeitsfähigen Leistungsbeziehern ist das verschwindend wenig.

Warum die Sanktionen dann nicht ganz abschaffen, wie es die Grünen klar fordern?

SCHEELE Was soll denn ein Vermittler tun, wenn ein Arbeitsloser mehrfach nicht zum Termin erscheint? Es braucht für eine sehr geringe Zahl von Menschen ein Instrumentarium, damit sich ein Vermittler durchsetzen kann und nicht zum Bittsteller gegenüber demjenigen wird, der eine staatliche Leistung bezieht. Wenn man sich für den Donnerstag in vier Wochen um 14.30 Uhr verabredet, warum kann man da nicht kommen? Was ist daran Zwang? Das ist doch eine absurde Diskussion.

Angenommen, Sie könnten Hartz IV nach Ihrem Gusto reformieren. Was würden Sie zuerst anpacken?

SCHEELE Das Thema der Lebensleistungsgerechtigkeit ist sicher wichtig. Auch wäre ein Unterhaltsgeld für Umschulungen wünschenswert, damit Betroffene die Umschulung nicht wegen finanzieller Engpässe hinschmeißen. Ich bin auch dafür, Jugendliche nicht härter zu sanktionieren als Ältere und auch nicht die Leistungen für die Unterkunft zu kürzen. Den Wohnraum zu verlieren, hilft nicht bei der Integration in Arbeit oder Ausbildung. Und ich würde das Leistungssystem einfacher handhabbar machen.

Stimmen die Hartz-IV-Regelsätze, oder sind sie Armut per Gesetz?

SCHEELE Die Regelsätze sind vom Bundesverfassungsgericht für rechtens erklärt worden. Und ist es gerecht, wenn eine Verkäuferin möglicherweise genauso viel bekommt wie jemand, der gar nicht arbeitet? Zumal die Grundsicherung ja darauf angelegt ist, möglichst schnell wieder davon wegzukommen. Für eine deutliche Anhebung der Regelsätze sehe ich wenig Spielraum. Das Ziel muss eine auskömmliche Beschäftigung sein, die ein gutes Leben ermöglicht.

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