Arbeiten bis 70?Wirtschaftsforscher: "Die Rente mit 70 ist schlicht die bittere Wahrheit"

Brüssel. Wer 1990 oder später geboren wurde, wird seinen Lebensabend in Rente möglicherweise erst mit 70 beginnen können. Eine bislang noch unveröffentlichte Studie der EU-Kommission kommt zu dem Ergebnis: Um eine "schmerzhafte Kombination aus geringeren Zahlungen und höheren Beiträgen" zu vermeiden, muss das Renteneintrittsalter schrittweise mit der Lebenserwartung steigen

Brüssel. Wer 1990 oder später geboren wurde, wird seinen Lebensabend in Rente möglicherweise erst mit 70 beginnen können. Eine bislang noch unveröffentlichte Studie der EU-Kommission kommt zu dem Ergebnis: Um eine "schmerzhafte Kombination aus geringeren Zahlungen und höheren Beiträgen" zu vermeiden, muss das Renteneintrittsalter schrittweise mit der Lebenserwartung steigen. Sonst ist die bisherige Altersvorsorge auf Dauer nicht finanzierbar. Derzeit gehen die EU-Bürger im Schnitt mit 60 in den Ruhestand. Das ist deutlich früher als in den Industrieländern der OECD. Dort beginnt die Rente bei Männern mit 63,5 und bei Frauen mit 62,3 Jahren.

Die stetig steigende Lebenserwartung bei gleichzeitig sinkenden Geburtenzahlen würde nach Erkenntnissen der Kommission langfristig zum Kollaps führen. Heute finanzieren in der EU drei Erwerbstätige mit ihren Abgaben einen Rentner. Bleibt das Eintrittsalter in den Ruhestand unverändert, werden 2030 nur noch zwei Beschäftigte die Lasten aufzubringen haben. 2060 aber kippt die Alterspyramide endgültig: Drei Berufstätige müssten dann für vier Pensionäre sorgen.

Die EU-Kommission geht davon aus, dass die Menschen in 50 Jahren rund sieben Jahre länger leben. Entsprechend sollte auch der Beginn des Ruhestandes schrittweise nach hinten geschoben werden. Als Grundsatz gilt: Höchstens ein Drittel der Lebenszeit über 18 darf in Rente verbracht werden. Dementsprechend müsse auch der Beginn der Zahlungen von den heute eigentlich angestrebten, aber in vielen Ländern noch nicht erreichten 65 Jahren auf 70 verschoben werden - in kleinen Schritten, wie man in Brüssel zugibt. Gut vorbereitet scheint da übrigens die Bundesrepublik, wo das gesetzliche Rentenalter bis 2030 auf 67 steigen soll. Eine dazu passende Fortführung der Anhebung entspräche also genau den Zahlen.

Allerdings dürfte es mit weniger Rente und höherem Eintrittsalter allein nicht getan sein. Für ältere Arbeitnehmer müssen auch Arbeitsplätze angepasst werden, gewinnen Stichworte wie lebenslange Weiterbildung und Flexibilität neue Bedeutung. Die ersten Erfahrungen in anderen Ländern belegen nämlich: Viele Senioren können und wollen durchaus länger im Beruf aktiv sein - vorausgesetzt man legt ihnen keine Steine wie Steuern oder Rentenabzüge in den Weg. Als Norwegen 2007 eine Reform beschloss, integrierte man entsprechende Anreize in das System: So dürfen die dortigen Beschäftigen im bisherigen Ruhestandsalter ohne Einbußen an ihrer Rente so viel arbeiten, wie sie wollen. Finnland verordnete, dass Arbeitgeber auch Jobs mit 15 oder 25 Stunden anbieten müssen, wenn Pensionäre in spe dies wollen. Einer britischen Umfrage unter Menschen im Rentenalter ergab, dass fast 40 Prozent gerne weiterarbeiten würden, allerdings nicht voll.

Nahezu jedes EU-Land doktert am Renteneintrittsalter herum. In Griechenland wird das offizielle Rentenalter von 65 kaum erreicht. Immerhin soll der durchschnittliche Beginn bis 2013 von derzeit 61,3 auf 63,4 Jahre angehoben werden. In Frankreich beginnt die Rente offiziell mit 60, doch die meisten Franzosen hören schon mit 58,4 Jahren auf zu arbeiten. Derzeit läuft eine Protestwelle durch das Land, weil der offizielle Ruhestand auf 61 angehoben werden soll. Auch in Spanien gibt es heftigen Protest, weil die Regierung die Altersgrenze von 65 auf 67 anheben will. Im neuen Sparprogramm der italienischen Regierung ist vorgesehen, dass die Italiener mindestens bis zum 61. Lebensjahr, mindestens aber 40 Beitragsjahre gearbeitet haben müssen. Großbritannien hat bereits vorgesorgt. Bis zum Jahr 2048 soll das Rentenalter auf 68 angehoben werden.Herr Professor Zimmermann, die EU-Kommission empfiehlt, das Renteneintrittsalter bis 2060 auf 70 Jahre anzuheben. Ist das ein lebensfremdes Zahlenspiel oder die bittere Wahrheit?

Zimmermann: Das ist schlicht die bittere Wahrheit. Eine Anhebung des Rentenalters ist mathematisch eine Option, um die durch die Demografie dramatisch steigenden Rentenlasten abzuwehren. Wenn wir das nicht tun, müssten wir die Renten stark kürzen oder erheblich höhere Beiträge verlangen.

Wenn die Lage so dramatisch ist, warum die Rente mit 70 dann erst ab dem Jahr 2060?

Zimmermann: 2060 ist viel zu spät. Das wird viel früher kommen - schon deshalb, weil die Lebenszeit sich ständig erhöht und die Menschen das sehr gesund erleben. Auf der anderen Seite werden die Kosten für das Rentensystem so stark ansteigen, dass sie nicht mehr durch unser soziales Sicherungssystem getragen werden können.

Wie wollen Sie die Rente mit 70 einem Stahlarbeiter erklären?

Zimmermann: Die Vorstellung, dass man lebenslang in einem Beruf tätig ist, ist überholt. Man muss seine Tätigkeit im Lauf seines Berufslebens durch Weiterbildung und Umschulung ändern. Auch Piloten oder Fluglotsen können nicht bis ins hohe Alter arbeiten und müssen sich irgendwann umorientieren - das wird auch für Stahlarbeiter gelten.

Meinung

Reform kann allen nützen

Von SZ-Korrespondent

Detlef Drewes

Das Thema ist so heikel, dass es kaum eine Regierung anfassen kann, ohne dafür vom Wähler abgestraft zu werden. Also muss die EU-Kommission ran und die Wahrheit verkünden: Europas junge Leute von heute müssen morgen länger arbeiten. Sonst wachsen ihnen die Ausgaben für die Altersversicherung im wahrsten Sinne des Wortes über den Kopf. Die Beitragszahler, die man bräuchte, um das gegenwärtige System aufrecht zu erhalten, hätten vor 20 oder 30 Jahren geboren werden müssen. Sie fehlen. Hinzu kommt: Je länger die Menschen leben, je häufiger stellt sich auch die Frage, warum sie nicht länger arbeiten dürfen, wenn sie denn wollen. Die Anhebung des Renteneintrittsalters kann allen nützen, vorausgesetzt man berücksichtigt auch jene Berufe, in denen wirklich mit 65 die Leistungsfähigkeit erschöpft ist.

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