Angst vor der Schuldenwelle"Schuldenländer müssen auch pleitegehen können"

Berlin/Brüssel. Für Teile von Tirol waren Gewitter und Regen angesagt. Die Wettervorhersage passte zur Weltuntergangsstimmung, die seit Tagen an den Finanzmärkten vorherrschte. Und zum Urlaubsprogramm der Kanzlerin. Kein gutes Buch, sondern Krisentelefonat mit Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und Spaniens Regierungschef José Luis Zapatero

Berlin/Brüssel. Für Teile von Tirol waren Gewitter und Regen angesagt. Die Wettervorhersage passte zur Weltuntergangsstimmung, die seit Tagen an den Finanzmärkten vorherrschte. Und zum Urlaubsprogramm der Kanzlerin. Kein gutes Buch, sondern Krisentelefonat mit Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und Spaniens Regierungschef José Luis Zapatero. Sarkozy wolle, so wurde vorab mitgeteilt, betonen, dass alle Beschlüsse des EU-Sondergipfels vom 21. Juli bis spätestens Anfang September ausgearbeitet und dann "schnellstmöglich umgesetzt würden".Angesichts der dramatischen Börsen-Talfahrt weiß Angela Merkel, dass mit der erneuten Eskalation der Euro-Schuldenkrise das Regieren in Berlin noch ungemütlicher wird. Schon bei der zweiten Milliarden-Notinfusion für den Patienten Griechenland gab es in den eigenen Reihen lautes Murren.

Merkel, FDP-Chef Philipp Rösler und die Fraktionsspitzen hielten die eigenen Reihen aber geschlossen. Die Abgeordneten, in den Wahlkreisen in Erklärungsnot, bekamen ihre roten Linien: Dem deutschen Steuerzahler wird das Risiko aus Griechenland nur zugemutet, weil es harte Sparauflagen, eine Beteiligung der Banken und ein Vetorecht des Bundestags bei künftigen Hilfen gibt. Umgekehrt bekam der Rettungsschirm ESFS mehr Macht.

Zeit und Ruhe kaufen, hieß die Devise. Denn im Herbst steht die Abstimmung über den neuen, dauerhaften Krisentopf ESM an, für den Deutschland 22 Milliarden Euro in bar gibt. Jetzt aber, nur zwei Wochen nach dem Athen-Gipfel, könnte es bereits um alles gehen. An den Märkten regiert nach 2008 wieder Panik. Die Angst vor einem Schuldencrash der Euro-Zone, einer neuen US-Rezession und einer möglichen Vollbremsung der Weltwirtschaft reißt die Börsen in die Tiefe. Zunehmend ratlos scheint nun die Politik zu sein - die zu Recht neue Risiken im Wochentakt vermeiden und nicht jede Volte der Finanzprofis mitmachen will. Ganz unschuldig an der wieder aufgeflammten Unruhe sind die Politiker aber nicht.

Wütend reagierte die Bundesregierung auf das Solo von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso für mehr Rettungsgeld. "So eine Debatte kommt zur Unzeit", schimpfte Vizekanzler Rösler. In Regierungskreisen wird eiskaltes Kalkül vermutet. Der frühere portugiesische Regierungschef wolle wohl die Panik an den Märkten nutzen, um im Sinne von Südeuropas Schuldensündern Portugal, Griechenland, Italien oder Spanien gemeinsame Euro-Anleihen zu erzwingen.

Das ginge auf Kosten des strengen Zuchtmeisters Deutschland, der als Klassenbester dann seine Topnote bei der Kreditwürdigkeit den maladen Partnern zur Verfügung stellen müsste. Die von Merkel stets ausgeschlossene Transferunion wäre dann endgültig Realität, mit unkalkulierbaren Risiken für die Steuerzahler.

In Brüssel versuchte EU-Währungskommissar Olli Rehn am Freitag, seinem Präsidenten zur Seite zu springen. "Die Märkte haben auf die Beschlüsse nicht so reagiert, wie wir es erwartet haben", räumte er ein. Man brauche "etwas Geduld". Die Kommission arbeite "Tag und Nacht" an der Ausformulierung der Vereinbarungen des Sondergipfels. Im Übrigen sei es eine langjährige Position der Kommission, die tatsächliche Tragfähigkeit des Rettungsschirms zu verstärken.

In der Union setzt man derweil darauf, dass die Parteichefin hart bleibt. Auch wenn Merkel im Rest Europas wieder als "Madame No" gescholten werden dürfte. Herr Scheide, steht die Welt erneut vor einer tiefen wirtschaftlichen Rezession?

Scheide: Die Gefahr ist zweifellos vorhanden. Das Risiko für eine weltweite Talfahrt hat jedenfalls deutlich zugenommen.

Woran machen Sie das fest?

Scheide: Die wirtschaftlichen Stimmungsindikatoren haben sich in den letzen Monaten in vielen Ländern verschlechtert. Hinzu kommen ungünstige Produktionsdaten in den USA.

In den USA wurde gerade erst eine Staatspleite abgewendet, und die EU hat sich kürzlich auf weitere Maßnahmen zur Euro-Rettung geeinigt. Warum zählt das nicht?

Scheide: Weil es sich letztlich nur um Flickwerk handelt. In den USA wurde lediglich das absolute Chaos abgewendet. Aber damit sind die Probleme nicht gelöst. Die Botschaft lautet, wir können weiter Schulden machen, über die Hauhaltskonsolidierung denken wir später nach. Dass das die Märkte nicht beruhigt, liegt auf der Hand. Auch der letzte Euro-Gipfel war kein großer Wurf. Die Märkte glauben nicht, dass die EU weiter in der Lage ist, das Schlimmste zu verhindern.

Dann hat EU-Kommissions-Präsident Barroso also Recht, wenn er das jüngste Rettungspaket der EU kritisiert?

Scheide: Der Einwand mag im Kern nicht falsch sein. Aber politisch unklug ist er auf jeden Fall. Die Gipfel-Beschlüsse wurden ja gerade als Lösung des Problems verkauft. Und nun geht Barroso her und sagt, wir müssen den Rettungsschirm noch mal aufstocken. Wo soll das enden? Was sollen die Märkte davon halten? Zumal Barroso im Dunkeln lässt, wie eine Lösung konkret aussehen soll.

Was können Blitzaktionen wie das Telefonat zwischen Merkel, Sarkozy und Zapatero bewirken?

Scheide: Auch das wird die Märkte nicht beruhigen. Die drei Regierungschefs haben damit nur signalisiert, dass es kein vernünftiges Gesamtkonzept auf europäischer Ebene gegen die Misere gibt.

Fatales Krisenmanagement?

Scheide: Das politische Krisenmanagement ist wirklich ein großes Problem. Es gibt kaum eine Institution, die in der Krise lenken und leiten kann. Die Regierungen geben ein schlechtes Bild ab.

Auch Spanien und Italien kommen jetzt in immer größere Zahlungsschwierigkeiten. Soll die Europäische Zentralbank deren Anleihen aufkaufen, wie von vielen gefordert?

Scheide: Auf keinen Fall! Das ist ein Problem der Finanzpolitik in diesen beiden Ländern. Die Politik muss dort ganz klar auf Haushaltskonsolidierung ausgerichtet sein, um die Defizite mittelfristig zu reduzieren. Das muss glaubwürdig sein und tatsächlich durchgezogen werden. Nur ein klarer, glaubwürdiger Kurs kann die Märkte beruhigen.

Italien und Spanien sollen auch nicht unter den Euro-Rettungsschirm schlüpfen dürfen?

Scheide: Richtig, denn es ist keine nachhaltige Politik, dass man immer mehr Ländern verspricht, sie zu retten. Im Falle so großer Länder wie Italien und Spanien kann das auch nicht funktionieren. Das würde die übrigen Staaten nämlich überfordern. Deshalb wäre eine solche Rettungsankündigung auch nicht den Märkten zu vermitteln. Man würde sie schlicht nicht glauben.

Sehen Sie einen Ausweg?

Scheide: Ich denke, im Notfall muss ein klarer Schnitt her. Wenn ein Land ganz große Schuldenprobleme hat, dann muss es auch in die Insolvenz gehen können. Dazu wäre ein geordnetes Verfahren nötig, um den Schaden für die Märkte in Grenzen zu halten. Das Problem ist nur, so ein Konzept gibt es auf europäischer Ebene offensichtlich nicht.

Hintergrund

Bei Börsianern hat sich das englische Wort crash (Absturz) als Bezeichnung für einen plötzlichen und dramatischen Kurssturz durchgesetzt. Als Paradebeispiel gilt der Zusammenbruch der New Yorker Börse 1929. Damals löste der "Schwarze Freitag" die Weltwirtschaftskrise aus. Der "Schwarze Montag" am 19. Oktober 1987 war der erste Crash nach dem Weltkrieg. Der Dow Jones fiel innerhalb eines Tages um 22,6 Prozent. dpa

Hintergrund

Verunsicherung ist das eine, doch es gibt auch andere Faktoren, die den Kursrutsch beschleunigen, zum Beispiel technische Vorgänge im Computerhandel.

Derzeit sorgt vor allem die Handelsoption "stop loss" ("den Verlust beenden") dafür, dass sich der Negativ-Trend weiter verstärkt, wie Klaus Stabel, Marktanalyst bei der Wertpapierhandelsbank ICF Kursmakler AG, erläutert.

Der Mechanismus funktioniert so: Ein Anleger gibt seiner Bank mit der "stop-loss"-Option den Auftrag, Aktien automatisch zu verkaufen, sobald sie unter einen bestimmten Wert fallen. Dies führe aber in einer Situation wie derzeit häufig zu einer Massenhysterie. "Es kommt eine Herdenbewegung in Gang." Die Ausschläge auf den Aktienkurs sind entsprechend. Verstärkend komme hinzu, dass sich die Verkaufswelle dann auch in anderen aktienbasierten Anlageformen fortsetzt, also etwa auch bei Fonds. Auch Termingeschäfte können zu der Dynamik beitragen. dpa

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