Angeklagter, erheben Sie sich!

Es gibt ein Foto von Christian Wulff, das ist jetzt wieder oft zu sehen. Es zeigt ihn im Trachtenhemd, wie er mit einem Maß Bier in der Hand seiner Frau Bettina zuprostet, gelöst, lächelnd.

Wenige Kilometer entfernt schläft im "Bayerischen Hof" der gemeinsame Sohn, vier Monate alt, ein Babysitter passt auf. München leuchtet, es ist der 27. September 2008. Doch der nette Samstagabend auf der Wiesn holt Wulff nun fünf Jahre später wieder ein.

In Saal 127 des Landgerichts Hannover wird der München-Trip heute an bis ins Kleinste seziert werden, monatelang: Was gab es zu essen? Wer bezahlte den Babysitter? Wurde der Wiesn-Besuch als Dienstreise des niedersächsischen Ministerpräsidenten abgerechnet oder als Privatausflug des jungen Ehepaares Wulff? "Dieser Prozess wird das Ereignis des Jahres werden - ein wahres Sittengemälde", sagt der Politik- und Medienberater Michael Spreng. 22 Prozesstage hat das Landgericht Hannover angesetzt, um zu klären, ob sich Wulff mit seinem Wiesn-Besuch der Vorteilsannahme in seinem Amt als Ministerpräsident schuldig gemacht hat. Der spätere Bundespräsident war wegen der Ermittlungen im Februar 2012 zurückgetreten. Es ist das erste Mal, dass ein ehemaliges Staatsoberhaupt der Bundesrepublik vor Gericht steht.

Mit auf der Anklagebank sitzt der Filmproduzent David Groenewold, wegen Vorteilsgewährung. Er soll für Wulff in München 510 Euro Hotel- und Babysitterkosten übernommen und außerdem 209,40 Euro für ein Abendessen und den Festzeltbesuch gezahlt haben. Eine Einladung unter guten Bekannten - wo ist da das Problem? "Auch ein Ministerpräsident muss Freunde haben können und mit denen mal zum Essen gehen dürfen oder von ihnen eingeladen werden zu einem Aufenthalt beim Oktoberfest", sagt der Strafrechts-Professor Uwe Hellmann von der Universität Potsdam. "Probleme tauchen immer dann auf, wenn diese Freundschaft auch noch eine geschäftliche Seite hat."

Was bei Wulff und Groenewold der Fall war: Nur einen Tag nach dem Oktoberfest-Besuch soll der Filmproduzent den Ministerpräsidenten schriftlich gebeten haben, bei dem damaligen Siemens-Vorstandschef Peter Löscher für eines seiner Filmprojekte zu werben. Und Wulff soll dieser Bitte gut zweieinhalb Monate später entsprochen haben. Mit dem Wiesn-Besuch ist am Ende nur ein strafrechtlich relevanter Punkt auf der langen Liste der Vorwürfe gegen Wulff übrig geblieben. Die reichten vom günstigen Hauskredit bis hin zu Urlauben bei vermögenden Freunden.

In den vergangenen Monaten ist es ruhig geworden um den Ex-Bundespräsidenten. So ausgezehrt wie kurz nach der Trennung von seiner Frau sieht er nicht mehr aus. Der 54-Jährige lebt seitdem in einer Altbauwohnung in Hannover. Und seine Noch-Ehefrau Bettina lächelte doch tatsächlich beim diesjährigen Oktoberfest wieder gut gelaunt in die Kameras, an ihrer Seite ein neuer Mann.

Das Angebot der Staatsanwaltschaft zur Einstellung des Verfahrens gegen 20 000 Euro lehnte Wulff ab. Er will für einen Freispruch kämpfen. "Wir haben intern gerungen, und der Mandant hat auch gerungen", sagt Verteidiger Michael Nagel kurz vor Prozessbeginn in der ARD. Co-Verteidiger Bernd Müssig ergänzt, Wulff habe Angst vor dem Bild, als erster Bundespräsident auf der Anklagebank zu sitzen: "Aber er braucht keine Angst davor zu haben, weil er wird dann auch der erste Bundespräsident sein, der freigesprochen wird." Politikberater Spreng meint dagegen: "Selbst wenn Wulff den Prozess gewinnen wird: Es wird ihm immens schaden."

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HintergrundMehrere Staats- und Regierungschefs in Europa mussten sich bereits vor Gericht verantworten:Silvio Berlusconi: Der frühere italienische Regierungschef wird im Oktober 2012 in einem Prozess um Steuerbetrug und Schwarzgeldkassen zu vier Jahren Haft verurteilt.Jacques Chirac: Der Ex-Präsident Frankreichs wurde wegen Veruntreuung und Vertrauensbruchs im Dezember 2011 zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt.Julia Timoschenko: Die ukrainische Ex-Ministerpräsidentin wird im Oktober 2011 wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt.Altkanzler Helmut Kohl blieb eine Anklage in der CDU-Spendenaffäre erspart. Er stimmte 2001 der Einstellung des Verfahrens gegen eine Geldauflage zu. dpa

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