Amok-Drohung war offenbar gefälscht

Winnenden/Hamburg. Es hätte alles so gut gepasst, plötzlich schien das Motiv klar. Tim K., der im Internet sieben Stunden vor seinem Amoklauf bekennt: "Scheiße Bernd, es reicht mir. Ich habe dieses Lotterleben satt, immer das selbe - alle lachen mich aus, niemand erkennt mein Potenzial

 Der Chat-Eintrag mit der Androhung eines Amoklaufs erwies sich im Nachhinein als Fälschung. Foto: dpa

Der Chat-Eintrag mit der Androhung eines Amoklaufs erwies sich im Nachhinein als Fälschung. Foto: dpa

Winnenden/Hamburg. Es hätte alles so gut gepasst, plötzlich schien das Motiv klar. Tim K., der im Internet sieben Stunden vor seinem Amoklauf bekennt: "Scheiße Bernd, es reicht mir. Ich habe dieses Lotterleben satt, immer das selbe - alle lachen mich aus, niemand erkennt mein Potenzial." Zweifelsfrei sei der Eintrag dem 17 Jahre alten Täter zuzuordnen, sagte Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech (CDU). Doch dann die peinliche Wende: Rech und Polizei rudern zurück. "Irgendein Verrückter hat wohl eine schlimme Falschmeldung in die Welt gesetzt", sagt der Minister nun.

Schon am Donnerstagnachmittag meldete sich ein Informant aus der Nähe von Stuttgart bei der dpa, der sagte: "Die lachen sich kaputt hier, dass alle auf die Fälschung hereingefallen sind." Ob Tim K. irgendwo nicht doch einen Eintrag hinterlassen hat, ist noch unklar. Aber der vielfach veröffentliche Screenshot - eine digitale Fotografie einer Internetseite - ist nach Expertenansicht gefälscht.

Wie konnte es dazu kommen? "Das ist ganz einfach, so einen Eintrag zu manipulieren", sagt der Experte zur Quellenprüfung im Internet, der Berliner Journalist Albrecht Ude. "Einen solchen Eintrag mit Photoshop zu fälschen ist nicht schwierig", sagt auch Axel Kossel, Redakteur der Zeitschrift "c't". Ein Forumsbeitrag von 2.45 Uhr wurde abfotografiert (Screenshot). "Das kann natürlich auch nachträglich, also Stunden nach dem Amoklauf am Mittwoch, gemacht worden sein", sagt ein Kenner von krautchan.net. Mit einem Bearbeitungsprogramm wurde dann der ursprüngliche Text ersetzt durch die angeblichen Worte des Täters. Der Zeitstempel 2.45 Uhr blieb aber bestehen.

Im Nachhinein lässt sich nicht mehr verifizieren, was ursprünglich in der Nacht vor der Tat auf krautchan.net diskutiert wurde - wohl nach Verbreitung des Screenshots wurden viele Inhalte der Seite gelöscht, und die Seite wurde vom Netz genommen. Wer dort aktiv war, lässt sich nur noch über die IP-Adressen der Computer ermitteln - doch der Server steht in den USA.

In der Szene wurde über den fragwürdigen Coup jubiliert. "Der Fall wird als epischer Gewinn gefeiert, weil er eine solche große Resonanz ausgelöst hat", sagt der Informant. Man mache sich in der Szene lustig über Medien, die den in dem Beitrag angesprochenen "Bernd" als Freund des Amokläufers bezeichnet hatten. Als "Bernd" werde in dem Forum jeder Nutzer bezeichnet, der sich anonym anmeldet. "Wir reden uns alle mit Bernd an, um die Anonymität zu wahren." Die Betreiber der Seite www.krautchan.net, wo die Amok-Androhung aufgetaucht war, kritisieren die Ermittler scharf: "Was man übrigens auf dem PC des Täters gefunden haben will, wissen wir nicht. Vielleicht hat er die Seite mal besucht. Den durch die Presse gegangenen Beitrag hat er jedenfalls nicht verfasst, denn der hat nie existiert." Am Freitag räumen auch Ermittler ein, dass - trotz wiederholter Behauptung - auf Tim K.'s PC keine Spuren zu finden sind, die auf eine Amok-Drohung hinweisen könnten.

"Den Urheber wird man kaum finden können, ich kann mir nicht vorstellen, dass er das von zu Hause aus gemacht hat", sagt der Kenner der Seite, der auf Anonymität besteht. Seines Wissens nach ist der gefälschte Beitrag am Mittwoch zwischen 12 und 17 Uhr entstanden. Tim K. hatte um 9.30 Uhr am Mittwoch seinen Amoklauf begonnen, bei dem er 15 Menschen erschoss, bevor er sich selbst richtete. "Ich vermute mal, dass es unter den Ermittlern nicht so viele Internet-Spezialisten gibt, wie es sie geben sollte", kritisiert der auch für das Netzwerk Recherche aktive Albrecht Ude. "Aber besonders auch uns Journalisten sollte der Fall zu denken geben."

Hintergrund

 Der Chat-Eintrag mit der Androhung eines Amoklaufs erwies sich im Nachhinein als Fälschung. Foto: dpa

Der Chat-Eintrag mit der Androhung eines Amoklaufs erwies sich im Nachhinein als Fälschung. Foto: dpa

Ein 20-Jähriger aus Trier-Tarforst ist in der Nacht zum Freitag festgenommen worden, weil er laut Polizei "aus Blödsinn" eine Amokdrohung im Internet verbreitet hatte. Jetzt wird gegen den jungen Mann wegen "Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten" ermittelt. red

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Geschichte erlebenIm Mai 2006 eröffneten der Historische Verein zur Erforschung des Schaumberger Landes und die Gemeinde Tholey das Theulegium im ehemaligen Gebäude des Königlichen Amtsgerichts. Hier tauchen Besucher tief in die Regions-Geschichte ein.
Geschichte erlebenIm Mai 2006 eröffneten der Historische Verein zur Erforschung des Schaumberger Landes und die Gemeinde Tholey das Theulegium im ehemaligen Gebäude des Königlichen Amtsgerichts. Hier tauchen Besucher tief in die Regions-Geschichte ein.