Amerikas neues Trauma

Macht euch nichts vor", sagt Chris Enzo. "Das Trauma wird bleiben, das hier werden wir lange nicht abschütteln können, es muss ja erst noch einsickern, wir stehen doch ganz am Anfang." An Laternenmasten, in Schaufenstern, an der McDonald's-Reklame, überall in Orlando sieht man bereits die Parole, die helfen soll, den Blick nach vorn zu richten. Die Seite umzublättern, wie es in Amerika im Moment einer Tragödie oft heißt. "Orlando ist stark", steht da. Enzo weiß, im Moment ist es Wunschdenken, eine Art Pfeifen im Walde. Er jedenfalls will gar nicht verhehlen, dass er unter Schock steht, nervös, verunsichert, fahrig ist. "Unsere Gemeinschaft ist ja so klein. Man hat das Gefühl, wir waren alle Zielscheiben", sagt Enzo.

Der 25-Jährige, der regelmäßig in einem Schwulenclub kellnert, um sein Studium zu finanzieren, bangt um Rodney Sumter, seinen Freund. Der stand im Moment, als der Angreifer Omar Mateen das Feuer eröffnete, im "Pulse" hinterm Tresen. Die Frau, für die er gerade einen Drink mixte, fiel vor seinen Augen zu Boden, wahrscheinlich tot. Selber von Kugeln an Schulter und Ellbogen getroffen, ging Sumter hinter der Theke in Deckung, bevor er es irgendwie nach draußen schaffte.

Es ist spät am Abend, rund zwanzig Stunden nach dem Blutbad. Enzo muss reden, um das Geschehene zu verarbeiten. Er ist dorthin gekommen, wo die Reporter warten, Grant Street/Ecke Orange Avenue, drei Straßenecken vom Tatort entfernt. Das Reklameschild eines Heimwerkerladens flackert im Dunkeln, Polizisten achten darauf, dass niemand das gelbe Plastikband passiert, auf dem "Crime Scene" steht. Irgendwo dahinter, zwischen Cafés und billigen Imbissbuden, liegt das "Pulse".

Es ist eine gespenstische Nacht in Orlando, der Partystadt, die Walt Disney und Harry Potter opulente Themenparks widmet und die ihre Besucher schon am Flughafen mit dem Versprechen begrüßt, dass sich Freizeit und Fantasie hier aufs Trefflichste mischen werden. Überall die rot-blauen Lichter der Polizeiautos, überall Absperrbänder. Die Innenstadt, das Areal rings ums "Pulse", erinnert an einen Kriegsschauplatz. Hubschrauber knattern am Himmel. Und das Lokalfernsehen zeigt eine erschütternde Szene nach der anderen: Verzweifelte Menschen, die nicht wissen, wie es ihren Kindern, ihren Geschwistern, ihren Cousins geht, ob sie leben oder nicht. Eine Frage ist es, die hier zwangsläufig in fast jedem Gespräch gestellt wird. Was ist passiert mit dem 29-jährigen Omar Mateen? Mit dem Mann, dessen Name sich für viele mit einem zweiten 9/11 verbindet, mit einem Terrorakt, der ähnliche Spuren hinterlässt wie die Attentate 2001, auch wenn die Opferzahl deutlich kleiner ist.

Mateen, so viel scheint klar, muss das Blutbad mit großer Präzision geplant haben. Die Waffen, aus denen er um sich feuerte, eine Pistole der Marke Glock und ein Sturmgewehr vom Typ AR-15, konnte er so mühelos erwerben, wie andere einen Autoreifen kaufen. Vor neun Jahren heuerte er nach seinem College-Abschluss in Kriminaltechnologie bei G4S Secure Solutions, einer großen Sicherheitsfirma, als Wachmann an. Nach Angaben des Unternehmens wurde er zweimal, 2007 und 2013, bei Routinetests psychologisch untersucht. Im Waffenladen, ist zu hören, sollen sich die Überprüfungen seiner Personaldaten auf ein Minimum beschränkt haben, denn als jemand, der im Beruf Waffen trug, schien er unbedenklich. Seine geschiedene Frau - er war nur zwei Jahre verheiratet - charakterisiert ihn als überaus reizbaren Menschen, der sie aus kleinstem Anlass geschlagen habe, etwa wenn die Wäsche noch nicht gewaschen war. Rodney Sumter, so schildert es dessen Kumpel Chris Enzo, hat ihn als kaltblütigen Profi erlebt.

2013 und 2014 nahm das FBI den in New York geborenen Sohn afghanischer Eltern näher unter die Lupe. Beim ersten Mal soll er ins Visier der Bundespolizisten geraten sein, nachdem er gegenüber Kollegen mit angeblichen Kontakten zur Terrorszene geprahlt hatte. Beim zweiten Mal stand er wegen möglicher Verbindungen zu radikalen Islamisten im Fokus, namentlich zum Selbstmordattentäter Munir Mohammad Abu Salha, einem US-Bürger, der sich in Syrien in die Luft sprengte. Abu Salha lebte in Fort Pierce, einer Küstenstadt im südöstlichen Florida, wo auch Mateen eine Zeit lang wohnte. Die Spurensuche des FBI jedenfalls ergab in beiden Fällen keinen erhärteten Verdacht, sodass der Massenmörder vor seiner Tat nicht unter Beobachtung stand, zumindest nicht unter intensiver.

Auf die Frage, ob er sich schärfere Waffenkontrollen wünsche, zeigt sich Enzo skeptisch. "Wenn einer unbedingt töten will, wenn er es sich dermaßen in den Kopf gesetzt hat, ich glaube nicht, dass ihn ein schärferes Gesetz aufhalten kann." Ähnlich sieht es der 27-jährige Andrew Sybert aus Alabama, der im toleranten Orlando einen Ort gefunden hat, an dem er sich offen zu seiner Homosexualität bekennen kann. Auch Sybert spricht von der Angst, die nun in ihm steckt. Von der er sich aber nicht kleinkriegen lassen will. Noch in der Nacht will sich Sybert mit Freunden demonstrativ im "Stonewall", einer stadtbekannten Schwulenbar im Zentrum treffen. Sie wollen ein Zeichen setzen, dass die Gewalt nicht siegen wird, so sagt es Syberts Kumpel Keith Vega. "Wir wären doch nie so weit gekommen, wären wir bei jeder Sache vor lauter Angst auf die Knie gefallen." Im "Stonewall", fügt er mit lauter Stimme hinzu, wird nicht kapituliert.

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