Amerikaner ringen um die Wahrheit

Washington. Brandon Neely (28) sieht für seine jungen Jahre schon ganz schön alt aus. Seine Augen wirken müde, die Stirn glänzt wie bei einem, der eben aus einem Angsttraum aufgewacht ist. Bestimmt bringt der bullige Kerl mit dem Stiernacken 50 Kilogramm zu viel auf die Waage. Vielleicht vom Kummerfressen. Anlass dafür hätte er genug

Washington. Brandon Neely (28) sieht für seine jungen Jahre schon ganz schön alt aus. Seine Augen wirken müde, die Stirn glänzt wie bei einem, der eben aus einem Angsttraum aufgewacht ist. Bestimmt bringt der bullige Kerl mit dem Stiernacken 50 Kilogramm zu viel auf die Waage. Vielleicht vom Kummerfressen. Anlass dafür hätte er genug. "Es ist einfach so, dass Sie das jeden Tag alles noch einmal durchleben", sagt der ehrenhaft entlassene Army-Gefreite in seinem ersten Fernsehinterview über seine Erfahrungen als Wächter im US-Gefangenenlager in Guantanamo. "Sie werden es niemals vergessen."

"Das" und "es" sind die Erinnerungen an die Übergriffe auf Gefangene in Guantanamo, an denen er selber beteiligt war oder die er beobachtete. Der von schlechtem Gewissen geplagte Texaner gehörte zu den Soldaten, die bei der Ankunft der ersten Gefangenen dabei waren. "Wir wussten nicht, was wir erwarteten", berichtet er freimütig über die Stimmung bei der Vorfahrt des Busses in CampX-Ray. "Ich habe noch niemals einen Terroristen gesehen."

Die Vorgesetzten schärften den Truppen ein, diese Personen seien verantwortlich für die Anschläge vom 11. September. "Die schlimmsten Menschen in der Welt." Weshalb Neely gar nicht lange fackelte, als sich ein älterer Gefangener in seiner Obhut plötzlich ruckartig bewegte. Ehe sich der umsehen konnte, presste ihn der kräftige Wächter mit dem Gesicht auf den Zementboden. Später erfährt Neely, der Mann habe Angst gehabt, exekutiert zu werden, als ihn die Soldaten zwangen auf dem Boden zu knien.

Augenzeugen-Berichte wie diese könnten demnächst zur Routine werden, wenn der Kongress die Vorschläge der Justizausschuss-Vorsitzenden John Conyers im Repräsentantenhaus und Patrick Leahy's im Senat aufgreift und eine unabhängige Kommission einsetzt, die Gefangenmisshandlung, Folter und Übergriffe der Justiz während der Amtszeit George W. Bushs untersuchen soll. Eine Art Wahrheits-Kommission, die nach südafrikanischem Vorbild funktionieren könnte.

Conyers schlägt mit dem Gesetzes-Entwurf "H.R.104" vor, ein überparteiliches neunköpfiges Gremium zu schaffen, das "die relevanten Fakten untersucht, die Umstände und die Gesetzeslage", die Bushs Politik zu Grunde lagen. Leahy möchte der Kommission das Recht geben, aussagewilligen Zeugen volle Immunität zu gewähren. "Statt Rache brauchen wir eine faire Aufarbeitung dessen, was eigentlich geschah", warb der mächtige Senator kürzlich in einer Rede vor der Georgetown University in Washington für die Wahrheitskommission. Leahy schwebt damit ein Kompromiss zwischen gerichtlicher Verfolgung und Nichtstun vor. Instinktiv neige auch er einer Strafrechtsverfolgung zu. "Aber eine gründliche Ermittlung kann zwölf bis 15 Jahre dauern, und ich würde gerne schneller zu Antworten kommen."

US-Präsident Barack Obama kommt das Drängeln aus dem Kongress nicht gelegen. Mit Blick auf die enorme Wirtschaftskrise und seine großen Reformvorhaben will er nichts unternehmen, was das Klima in Washington vergiften könnte. "Ich bin mehr dafür, nach vorne zu blicken als zurück", merkt der Präsident auf seiner ersten Pressekonferenz im Weißen Haus zu der Idee einer Wahrheitskommission an. "Ich werde mir den Vorschlag anschauen."

Ginge es nach Obama, könnte es zum jetzigen Zeitpunkt dabei bleiben. Weshalb ihm der Beifall langjähriger Bush-Unterstützer wie David B. Rivkin und Lee A. Casey sicher ist. Die beiden argumentieren in einem Beitrag für die "Washington Post", der Leahy-Vorschlag "schüttet Säure in unser politisches Räderwerk". Selbst wenn es "nur" um Aufarbeitung gehe, bestünde die "Gefahr", die Grundlage für eine strafrechtliche Verfolgung der Betroffenen außerhalb der USA zu schaffen.

Daran besteht nach Ansicht des UN-Antifolter-Beauftragten Manfred Nowak schon jetzt kein Zweifel. "Es führt kein Weg daran vorbei, dass gefoltert wurde", meint der Österreicher. "Die Beweise liegen auf dem Tisch." Genauer gesagt in Form von Interviews mit Präsident George W. Bush im April 2008 und Vizepräsident Dick Cheney im Dezember. Beide räumten darin ein, die Misshandlung mutmaßlicher Al-Qaida-Gefangener genehmigt zu haben. Der ehemalige CIA-Chef Michael Hayden gab zu, die CIA habe drei Gefangene dem "Waterboarding" (den Kopf unter Wasser drücken) ausgesetzt. Ebenso etabliert ist die Verantwortung Donald Rumsfeld für den Missbrauch in Abu Ghraib und Guantanamo.

Ginge es nach den Republikanern sollte die Obama-Regierung gar nichts tun. "Die Leute, die ins Visier der Kommission gerieten, sind keine Folterer, das sind Helden", findet Bushs früherer Redenschreiber Marc Thiessen. "Sie sollten eine Parade auf der Pennsylvania Avenue bekommen." Moderate Kräfte wie die Nummer Zwei im Justizausschuss des Senats, Arlen Specter, verweisen auf die ordentliche Gerichtsbarkeit. Kurioserweise geben sich an diesem Punkt Kritiker von links und rechts die Hand.

Der Staatsrechtler Jonathan Turley von der Georgetown University erkennt in der vorgeschlagenen Wahrheits-Kommission den Versuch, "unseren Verpflichtungen unter der Antifolter-Konvention nicht nachzukommen". Tatsächlich müssten die USA als Unterzeichnerstaat Übergriffe verfolgen und zur Anklage bringen.

Für den Gefreiten Brandon Neely, der bei der Ankunft der ersten Gefangenen in CampX-Ray dabei war, geht es um etwas anderes. Angesichts der schrecklichen Erinnerungen sei es für in wichtig, seine Erlebnisse mitzuteilen. "Ich muss über Guantanamo sprechen." Das ist sein Beitrag zur Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit. "Ich bin mehr dafür,

nach vorne zu blicken

als zurück."

US-Präsident Barack Obama

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