Amerika will Gerechtigkeit

Für den Präsidenten ist es eine bittere Premiere, während das Parlament eine seltene Demonstration parteiübergreifender Einigkeit erlebt. Mit glasklarer Mehrheit hat der amerikanische Kongress ein Gesetz verabschiedet, das es den Hinterbliebenen der Opfer der Anschläge vom 11. September erlaubt, die Regierung Saudi-Arabiens zu verklagen, und zwar wegen mutmaßlicher Hilfe für die Angreifer. Es ist in den fast acht Amtsjahren Barack Obamas das erste Mal, dass die Legislative ein Veto des Staatschefs aushebelt.

Überraschend kommt die Entscheidung allerdings nicht, überraschend ist höchstens, dass sie so eindeutig fällt. Von 100 Senatoren votierten 97 für die Novelle. Harry Reid , der Fraktionschef der Demokraten, stellte sich als Einziger dagegen. Im Repräsentantenhaus waren es 348 Abgeordnete, die für das Gesetz stimmten, während es 77 ablehnten. Nach dem 9/11-Gesetz können die Angehörigen der Opfer vor amerikanischen Richtern nunmehr Klage gegen saudische Kabinettsmitglieder und Diplomaten einreichen, von denen sie glauben, dass sie die Terroristen unterstützten, finanziell oder in der Rolle von Quartiermachern. Letztere wären durch völkerrechtlich vereinbarte Immunität nicht mehr geschützt.

Konkret geht es um Verdachtsmomente aus dem Jahr 2000. Im kalifornischen San Diego traf das Vorauskommando der Al-Qaida-Zelle um Mohammed Atta ein: Khalid al-Midhar und Nawaf al-Hasmi, zwei saudische Staatsangehörige. Ein Diplomat am saudi-arabischen Konsulat in Los Angeles soll dem Duo nach Erkenntnissen des FBI einen Betreuer zur Seite gestellt haben, Omar al-Bayoumi. Von al-Bayoumi wiederum heißt es, dass er wohl für den Geheimdienst seines Landes arbeitete. Zwar kam eine hochkarätig besetzte Untersuchungskommission 2004 zu dem Schluss, dass weder die Regierung in Riad noch einzelne ihrer Mitglieder die Gruppe um Atta unterstützten. Die Forderung, das Kapitel noch einmal aufzurollen, ist seither jedoch nicht verstummt. Politisch zeigt der Parlamentsbeschluss, wie es kriselt und knistert im Verhältnis Washingtons zu seinem wichtigsten Partner in der arabischen Welt. Nach Jahrzehnten eines manchmal schwierigen, aber nie infrage gestellten Zweckbündnisses mit Saudi-Arabien scheint die amerikanische Politik zunehmend bereit, auf Distanz zu dem konservativen Königreich zu gehen.

Die Gründe sind vielschichtig. Erstens hat der Fracking-Boom dazu geführt, dass die USA weitaus weniger als noch vor zehn Jahren auf nahöstliche Ölimporte angewiesen sind. Zweitens ist der Iran, am Golf der regionale Gegenspieler Saudi-Arabiens, nicht mehr der Paria, der er einmal war. Mit dem Atomabkommen setzt sich allmählich die Einsicht durch, dass Teheran auf lange Sicht ein Partner sein könnte, zumal die iranische Gesellschaft moderner und weniger religiös ist als die saudische. Schließlich wächst die Ernüchterung darüber, wie eine von Riad angeführte Militärkoalition mit Waffen aus dem Westen im Jemen Krieg führt.

Dennoch ist bemerkenswert, wie unbekümmert sich der Kongress über die Bedenken der Regierung hinwegsetzt. Kaum war die Novelle verabschiedet, sprach Obama von einem schweren Fehler. "Alle von uns tragen noch die Narben des 11. September", räumte er ein. Kurz vor einer Wahl gegen die Familien der Opfer zu stimmen, sei etwas, was Politikern schwer falle, obwohl es nötig sei. Das Weiße Haus warnt vor einer Klagewelle gegen US-Soldaten oder Geheimdienstler, wenn sich andere Parlamente ein Beispiel nehmen und ähnliche Gesetze beschließen.

Meinung:

Überfälliger Schritt

Von SZ-Mitarbeiter Friedemann Diederichs

Barack Obama ist an Niederlagen nicht gewöhnt. Der US-Kongress, den er oft ignorierte, verpasste dem Präsidenten mit der Verabschiedung des 9/11-Gesetzes einen schmerzhaften Schlag ins Gesicht. Dabei war die Verabschiedung und das Aushebeln des Präsidenten-Vetos klug - und überfällig. 15 Jahre nach den Terroranschlägen haben die Angehörigen der rund 3000 Opfer Anspruch darauf, auch juristisch Gerechtigkeit zu erfahren. Nun können sie Saudi-Arabien verklagen. Indizien im 9/11-Bericht deuten auf eine Finanzierung einiger Attentäter durch staatliche Vertreter des Golf-Scheichtums hin. Obamas Prinzip ist stets gewesen, diplomatische Krisen um jeden Preis zu vermeiden. Mit Blick auf die Saudis fallen jetzt die Samthandschuhe weg - und das ist gut so.

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