Amerika lauscht grenzenlos

Auf der Landkarte des US-Geheimdienstes NSA ist Deutschland in Gelb eingezeichnet – Gelb steht für beträchtliche Ausspähung. In Zahlen ausgedrückt heißt das, US-Fahnder haben in einem einzigen Monat die Daten von rund 15 Millionen Telefongesprächen und zehn Millionen Internetverbindungen aus Deutschland abgefangen – und zwar täglich, wie der „Spiegel“ nach Enthüllungen des US-Informanten Edward Snowden berichtet.

In Europa ist Deutschland demnach das Land, das im Zentrum der Bespitzelung steht.

Ein gewichtiger Grund: Die mächtigsten Datenleitungen der Welt kreuzen sich hierzulande, etwa in Frankfurt am Main. Die NSA hat für die einlaufenden Datenströme ein Fangnetz entwickelt, das den wohlklingenden Namen "Boundless Informant" trägt - grenzenloser Informant.

Wie die US-Geheimdienste Deutschland einschätzen, auch das zeigen die streng geheimen Dokumente - als "Partner dritter Klasse", als "Angriffsziel" - hart und schonungslos. Nur Großbritannien, Australien, Kanada und Neuseeland werden als "enge Freunde" klassifiziert, die von der Spionage ausgenommen sind. Doch nicht nur Normalbürger, sondern auch Politiker wurden wohl bespitzelt. So installierten US-Geheimdienstler Wanzen in EU-Büros in Washington und New York, überwachten Telefone und Computer.

Über die Motive der Amerikaner herrscht Rätselraten. Die meisten verweisen darauf, dass die Daten den US-Fahndern Auskunft über Kontaktnetzwerke, Bewegungsprofile und das künftige Verhalten potenzieller Terroristen geben. Andere tippen auf Wirtschaftsspionage. Washington hüllt sich in Schweigen.

Für US-Präsident Barack Obama dürften die Enthüllungen zumindest unangenehm sein. Sein bejubelter Auftritt am Brandenburger Tor in Berlin vor zwei Wochen hatte die Wogen gerade erst wieder geglättet - nachdem Europa sich empört hatte, dass US-Geheimdienstler über Internetfirmen wie Apple, Google oder Facebook auch die Daten europäischer Nutzer ausspionieren.

Nun fragt sich Europa, warum die USA Europas Politiker bespitzeln müssen. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger meinte, dies könne "wohl kaum mit dem Argument der Terrorismusbekämpfung erklärt werden." Ein EU-Diplomat brachte es auf den Punkt: "Das trägt paranoide Züge."

In seiner Berlin-Rede hatte der US-Präsident noch die Bedeutung Deutschlands betont: "Ich bin zuversichtlich, dass wir in der Zusammenarbeit mit Deutschland gegenseitig unsere Sicherheit gewährleisten." Spricht man so über Partner "dritter Klasse"?

Nun müssen sich die Amerikaner unangenehme Fragen gefallen lassen. Die völlig überrascht wirkende EU-Kommission verlangte von den USA Aufklärung. Allein das Adjektiv "sofortige" vor "Aufklärung" gab einen Hinweis darauf, wie groß in Brüssel der Ärger ist.

Im Europaparlament gab es erst jüngst Forderungen, die Freihandelsgespräche mit den USA wegen der NSA-Datenaffäre auf Eis zu legen. Mitte Juni hatten beide Seiten beim G8-Gipfel grünes Licht für die Verhandlungen zur Schaffung der größten Freihandelszone der Welt gegeben, die Jahre dauern dürften. Es geht um die Abschaffung von Zöllen und den Zugang zu den Märkten; EU und USA versprechen sich davon Wohlstand und Arbeitsplätze. Würde das Abkommen platzen, wäre der Schaden immens.

Die Grünen im Europaparlament verlangen, internationale Verträge mit den USA aufzukündigen. Etwa das "Swift"-Abkommen, das den US-Behörden erlaubt, die Daten von EU-Bankkunden auszuwerten, um Geldströme von Terroristen zu kappen. Auch die Buchungsdaten (wie Adresse, Kreditkarte oder Menüwunsch) von Europäern, die in die USA fliegen, landen in den Händen der Geheimdienste.

Die nächste Woche dürfte für Zündstoff sorgen. Das EU-Parlament berät dann auch über die NSA-Affäre. Die Enthüllungen der streng geheimen NSA-Dokumente im Nachrichtenmagazin "Spiegel" belegen, dass es dem Geheimdienst nicht bloß um die Terrorbekämpfung geht. Die Freunde selbst werden bespitzelt. Von den Bürgern über die Regierung in Berlin bis zu den EU-Einrichtungen in Washington, New York und Brüssel. Das verlangt umfassende Aufklärung durch die US-Regierung, die sich bisher ausschweigt. Der angerichtete Schaden der Schnüffeleien für das transatlantische Verhältnis ist erheblich. Präsident Obama sollte es zur Priorität machen, das verloren gegangene Vertrauen wiederherzustellen. In einem ersten Schritt muss er seine außer Rand und Band geratenen Geheimdienste an die Leine legen. Die Missachtung elementarer Grund- und Freiheitsrechte für ein bisschen mehr Sicherheit ist nicht akzeptabel. Die Europäer verdienen den gleichen Schutz ihrer Privatsphäre wie die US-Bürger.

Zum Thema:

HintergrundDie National Security Agency (NSA) gilt als mächtigster, geheimster und teuerster der 16 US-Spionagedienste. Nach den jüngsten Enthüllungen hat sich die NSA vor allem für Internetknoten in Süd- und Westdeutschland interessiert. Frankfurt am Main ist der weltweit größte Datenumschlagplatz. In der Main-Metropole ist auch der weltweit viertgrößte Datenverteiler DataIX aktiv, der vor allem Russland und Osteuropa mit dem Westen verbindet. dpa

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort