Als Feinde kurz zu Freunden wurden

London · Vor wenigen Tagen traten die Nationalmannschaften der Britischen Armee und der Bundeswehr im Gedenken an den sogenannten Weihnachtsfrieden gegeneinander an. Die spontane Waffenruhe an einigen Abschnitten an der Westfront um die Feiertage 1914 wird vor allem in Großbritannien häufig aufgegriffen und romantisierend dargestellt.

Der Mythos beginnt oft mit dem Nebel, der noch in den Schützengräben hing, genauso wie der Klang der Erinnerung. Weißer Frost deckte den Boden ein. Manchmal lehnten Soldaten an den Schlammwänden der Gräben. Wie Leslie Walkington an jenem Morgen nach Heiligabend im Jahr 1914 . Langsam verzog sich der Dunstschleier. Dann kletterten die Kameraden aus ihren Gräben heraus, winkten vorsichtig dem Feind zu, um sicherzugehen, nicht erschossen zu werden. "Es war ein wunderschöner Tag", erinnerte sich der Brite später gegenüber der BBC. Er sprach von einem jener Momente, in denen kurz Menschlichkeit in den Ersten Weltkrieg gezogen ist. Die Feinde wurden zu Freunden auf Zeit. Soldaten haben Augenzeugen zufolge an zahlreichen Abschnitten der Westfront ohne Befehl ihre Waffen niedergelegt und gemeinsam Weihnachten gefeiert.

Die Festtage im Jahr 1914 sind als Weihnachtsfrieden in die Geschichte eingegangen. "Der Aspekt, dass der Weihnachtsfrieden höchst unterschiedlich abgelaufen ist und teilweise auch überhaupt nicht, wird in dem Mythos ausgeblendet", sagt der Historiker Felix Römer vom Deutschen Historischen Institut in London . Im britischen Fall handele es sich vor allem um eine "Romantisierung" des Weihnachtsfriedens, mehr noch "um eine selektive Wahrnehmung der Ereignisse". Obwohl häufig praktische Gründe kurzzeitige Waffenruhen ausgelöst hätten, etwa um die Toten bergen zu können, werde in den romantischen Darstellungen meistens das idealistische Moment betont - "der Weihnachtsfrieden um der Völkerverständigung und der Ablehnung des Krieges willen". Es finde eine Überbetonung der Geschehnisse statt, obwohl an vielen anderen Orten weiter geschossen wurde. Und weiter gestorben. So werden gerne verallgemeinernd Geschichten erzählt wie jene des Briten Albert Moren. Laut seiner Schilderung begann alles mit einem Licht, Kerzen wurden auf der feindlichen Seite angezündet, dann sangen die Deutschen "Stille Nacht", die Briten stimmten mit "Silent night" ein - zwei Sprachen, eine Bedeutung. "Es war einer der Höhepunktes meines Lebens", sagte Moren später.

Damals teilten Soldaten an einigen Orten im belgisch-französischen Grenzgebiet untereinander Geschenke wie Zigaretten und Schokolade sowie Geschichten aus. Sie handelten oft von Ernüchterung, denn eigentlich hatten die meisten Soldaten, die im Sommer 1914 voller Euphorie an die Front marschierten, geglaubt, "bis Weihnachten" seien sie wieder zu Hause. Das Gegenteil sollte der Fall sein.

In diesem Jahr, in dem sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal jährt, wird dieses Waffenstillstands gedacht, als sich die Gegner, die wenige Stunden zuvor noch um Leben und Tod gekämpft hatten, Fotos ihrer Liebsten zeigten und im Niemandsland zum Teil sogar Fußball miteinander spielten.

Am 17. Dezember traten Mannschaften der britischen Armee und der Bundeswehr in einem Gedenkspiel gegeneinander an. Zuvor gab es eine Schweigeminute und eine Sängerin sang "Stille Nacht" auf Deutsch und auf Englisch. Es sollte der Höhepunkt der im Zeichen des Fußballs stehenden Erinnerungswoche an den Weihnachtsfrieden bilden.

Vor einigen Tagen hat Prinz William ein Denkmal nahe Birmingham eingeweiht, das an die Waffenruhe erinnern soll. "Das bleibt heute noch sehr bedeutungsvoll als eine Botschaft von Hoffnung und Menschlichkeit, sogar in der trostlosesten aller Zeiten", sagte er. Fußball habe, damals wie heute, "die Kraft, Menschen zusammenzubringen und Grenzen einzureißen". Historiker Römer schränkt jedoch ein: "Es gab an mehreren Stellen Fußballspiele, aber nicht überall." Es sei ein Musterbeispiel dafür, wie Narrative konstruiert werden. "Ein Punkt wird herausgegriffen und dann verallgemeinert."

Während das Ereignis in der deutschen Heimatpresse kaum Beachtung fand, erfuhren die Menschen auf der Insel schnell von der kurzfristigen Verbrüderung. So erschienen bereits im Januar 1915 erste Schilderungen in der britischen Presse. Der Tenor? Positiv. "Das Geschehene zeigte die Menschlichkeit der einfachen Soldaten", so Römer, auch wenn das der offiziellen Propaganda zuwider lief. Während die Manipulation in Deutschland offenbar besser funktionierte, hat sich der Waffenstillstand ins Bewusstsein der Briten eingeprägt. Genauso wie der Erste Weltkrieg, die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts". Sie nennen ihn "Great War", den Großen Krieg, der auf der Insel aufgrund der hohen Opferzahlen das bestimmende historische Ereignis des 20. Jahrhunderts darstellt und auch eine andere Erinnerungskultur genießt. Es finde laut Römer eine "andere patriotische Identifikation" mit den Soldaten und dem Krieg statt als in der Bundesrepublik, wo der Erste Weltkrieg im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg eine relativ untergeordnete Rolle spiele.

Erst vor wenigen Wochen reihte sich ein Kurzfilm über den Weihnachtsfrieden in den Erinnerungsreigen ein. Es handelte sich jedoch um einen Spot der britischen Supermarktkette Sainsbury's. Eine Diskussion darüber, wie weit Werbung gehen dürfe, entbrannte. Während zahlreiche Briten den emotionsgeladenen Film als "bewegendes Denkmal" bezeichneten, fanden andere die Ausbeutung des Ersten Weltkriegs für den kommerziellen Profit "geschmacklos". Ei n Werbefachmann bezeichnete den Zeitpunkt des Spots - im Gedenkjahr - als perfekt. So dachte wohl auch der europäische Fußballverband Uefa. Vor wenigen Tagen hat Präsident Michel Platini ein Denkmal eingeweiht, das an den Weihnachtsfrieden und vor allem an die Rolle des Fußballs erinnern soll. Zudem wurde ein Video veröffentlicht, in dem Fußballstars wie Wayne Rooney und Philipp Lahm die Geschehnisse vor 100 Jahren nachzeichnen. Nach Weihnachten 1914 konnten die damaligen Zeitungen mit der emotional ansprechenden Geschichte laut Experten Auflage machen. Sie sollte die Menschlichkeit der einfachen Soldaten zeigen.

Und heute, 100 Jahre später, scheint der Mythos auf ähnliche Weise zu funktionieren. Eine Supermarktkette verkauft durch ihren Spot mehr Schokolade, und die Uefa vermarktet die Uefa. Dabei hatte das Ereignis laut Römer eigentlich keine große Bedeutung. Der Krieg dauerte noch bis 1918 an und kostete insgesamt etwa 17 Millionen Menschen das Leben.

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