Als die Saarländer heimkehrten - ins Reich

Ein durchschnittliches Menschenleben liegt nun also zwischen uns und jenem Tag, der einmal als einer der wichtigsten und umstrittensten in der saarländischen Geschichte galt. Am 13

Ein durchschnittliches Menschenleben liegt nun also zwischen uns und jenem Tag, der einmal als einer der wichtigsten und umstrittensten in der saarländischen Geschichte galt. Am 13. Januar 1935 fand zum ersten Mal eine Volksabstimmung im Saarland statt, das damals noch Saargebiet hieß, von einer internationalen Regierungskommission geleitet wurde und seit 15 Jahren nicht mehr zu Deutschland gehörte. Dieser "nationale Fehler" sollte an jenem Wintertag korrigiert werden. So wollten es jedenfalls fast 100 Prozent der Saarländer bis 1933, und dafür stimmten noch 90 Prozent zwei Jahre später. Die buchstäbliche Dezimierung des Votums war dem größten und politisch erfolgreichsten Verbrecher zu verdanken, den Deutschland jemals auf österreichischem Boden hervorgebracht hatte: Adolf Hitler.

Vor einem Vierteljahrhundert hat diese Geschichte die Saarländer noch sehr bewegt. Noch lebende Zeitzeugen von einst führten den großen Kampf von 1935 argumentativ weiter, ob sie nun der "Deutschen" oder der "Einheitsfront" angehört hatten. Ausstellungen und ganze Serien von Zeitungsartikeln informierten die Öffentlichkeit, Radio- und Fernsehsendungen entstanden, und Gerhard Paul legte seine dicke "Deutsche Mutter" vor, die noch heute die wissenschaftliche Sicht der Dinge zum 13. Januar bestimmt.

Beim Rückblick auf jene turbulente Kampfzeit der Geschichtsschreibung könnte man fast wehmütig werden angesichts der Tristesse, die sich seit Jahren rund um den Gedenktag verbreitet. Mit verständlicherweise erlahmendem Eifer und Pflichtbewusstsein erinnert der Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in unregelmäßigen Abständen daran, dass noch immer drei Straßen in saarländischen Städten den Namen jenes 13. Januar 1935 tragen, an dem die Saarländer heim ins Nazi-Reich kehrten. Früher einmal, in der diesbezüglich politisch sehr korrekten Saarstaatszeit, war das ganz anders. Da wurde in der neuen Landeshauptstadt aus dem noch von Gauleiter Josef Bürckel initiierten "13. Januar" fast folgerichtig eine "Schlachthofstraße", und vielleicht geschah das nicht nur deswegen, weil sich hier die zentrale Tötungsfabrik für südwestdeutsches Großvieh befand und befindet. Nachdem sich dann aber ein ortsansässiges Unternehmen über seine wenig umsatzfördernde Geschäftsadresse beschwert hatte, verwandelte sich die Schlachthofstraße bis 1957 in die harmlose "St. Arnualer Straße", um danach - als mit der Rückgliederung die "Deutschen" in Saarbrücken wieder das kulturelle Sagen erhielten - wie vor 1945 an den Tag des ersten saarländischen Referendums erinnern zu dürfen.

Ähnlich unspektakulär wie die öffentliche Erinnerungskultur fielen die zwischen zwei meist geschlossenen Buchdeckeln in den vergangenen Jahren gemachten Geschichtsübungen aus. Trotz des gewaltigen Erkenntniszugewinns, den Studien vor zwei bis drei Jahrzehnten brachten, steht man immer noch relativ ratlos vor der eigentlichen und einzig wahren Gretchenfrage, die der 13. Januar 1935 aufwirft. War es eine Entscheidung nur für Deutschland, sonst für nichts? Oder ein nationales Votum trotz Hitler? Vielleicht sogar ein bewusstes Bekenntnis zum neuen nationalsozialistischen Deutschland, heim ins Reich, also gerade wegen Hitler?

Man wird eine befriedigend differenzierte Antwort nicht erhalten, weder in der älteren noch in der neueren Forschungsliteratur. Noch immer hallt das Echo des Abstimmungskampfes selbst nach, scheinen sich die Widersacher von 1935 in den wissenschaftlichen Stimmen der Gegenwart weiter zu bekämpfen. Erschwert wird eine richtig perspektivische Einsicht auch deshalb, weil Holocaust und Vernichtungskrieg beim Geschehen von 1935 automatisch mitgedacht werden. Was aber politisch-moralisch vollkommen korrekt, ja notwendig ist, führt beim Versuch einer ebenso notwendigen Historisierung zu falschen Ergebnissen: Die Akteure des Abstimmungskampfes trafen ihre Entscheidung auf der Basis des in den letzten 15 Jahren vor 1935 Erlebten, und selbst ein weitsichtiger Mann wie der damalige SPD-Vorsitzende des Saargebietes, Max Braun, konnte damals nicht ahnen, welche Dimensionen das Grauen in Deutschland binnen weniger Jahre annehmen sollte.

Um neue Antworten auf alte Fragen zu finden, wird man also den Weg zurück zu den Quellen suchen müssen. Grundsätzlich müssten dabei nicht nur noch wenig bearbeitete Bestände - wie die Akten des Völkerbundes in Genf, sondern auch bereits gesichtete Quellen erneut in Augenschein genommen werden. Beim ersten Einstieg in die heute im Landesarchiv verwahrten Polizeiakten der Abstimmungszeit kann man ziemlich schnell viele Dinge entdecken. Zum Beispiel, wie überragend der Grad der Politisierung war. Man sieht die fast schon Alltäglichkeit einer nicht nur mit harten Worten ausgetragenen politischen Konfliktkultur, in der freilich die Gewalt alles andere als ein Monopol der Deutschen Front war: Auch die rote Faust wurde keineswegs immer nur zum Freiheitsgruß erhoben. Man liest, wie oft Bruder Alkohol mit im Spiel war, wenn es zwischen den Rivalen um die "große" Politik ging. Und man erkennt sehr schnell das umfassende Bemühen von Regierung, Polizei- und Justizapparat, die öffentliche Ordnung bis zum Abstimmungstag aufrechtzuerhalten. Dass und in welchem Umfang selbst Banalitäten auf beiden Seiten zur Anzeige gebracht wurden - wenn etwa ein Hitlerjunge seine nachgemachte Uniformjacke mit dem Adler eines Frankfurter Autohauses schmückte - spricht dafür, dass die im Abstimmungskampf eigens verstärkte Polizei in ihrer Gesamtheit weder einseitig blind noch untätig war. Kurzum, eine erste Akteneinsicht verstärkt die Sensibilität für die vielen Grautöne auch dieses Kapitels saarländischer Historie. Schwarz-Weiß-Malerei eignet sich nicht einmal für die (Vor-)Geschichte des Nationalsozialismus. Schwarz-Weiß-Fotos liefern indes ungewöhnliche Impressionen. So zum Beispiel dort, wo Häuser mit dem Schild "Total Ausverkauf" erscheinen, ein Ausverkauf, der meist auf eine Geschäftsaufgabe zurückzuführen war, der das kommende Unheil gewissermaßen vorwegnahm. Das makabre Gegenstück dazu ist jenes Bild aus der Saarbrücker Bahnhofstraße vom Morgen des 15. Januar 1935: Kurz nach der Bekanntgabe des Ergebnisses werden viele Hausfassaden in den Farben der nationalsozialistischen "Siegernation" geschmückt. Auch das jüdische Geschäftshaus Japhet, Spezialist für Leder- und Spielwaren, gehörte mit seinen Girlanden, Wimpeln und Fahnen dazu. Warum und unter welchen Umständen dies geschah, das werden wir vielleicht nie mehr herausfinden. Versuchen sollten wir es unbedingt. Denn die Geschichte des 13. Januar 1935 ist noch lange nicht zu Ende geschrieben.

Dr. Paul Burgard ist Mitarbeiter des Landesarchivs. Der Beitrag ist in voller Länge im Magazin Saargeschichte|n (Ausgabe 4-2009) erschienen.

Hintergrund

Die Volksabstimmung an der Saar vom 13. Januar 1935, die mit ihrem überwältigenden Ergebnis von 90,8 Prozent als riesiger Erfolg für Reichskanzler Adolf Hitler gewertet wurde, war bereits im Versailler Vertrag von 1919 vereinbart. Dort hieß es in Artikel 49: "Nach Ablauf einer Frist von 15 Jahren nach Inkrafttreten dieses Vertrages wird die Bevölkerung dieses Gebietes aufgefordert werden, sich für diejenige Staatshoheit zu entscheiden, unter welche sie zu treten wünscht."

Im Januar 1920 war das Statut des Völkerbunds für das Saargebiet, das von einer Regierungskommission verwaltet wurde, in Kraft getreten. Der Franzose Victor Rault wurde Präsident der vom Völkerbund eingesetzten Regierungskommission. Während ihrer Amtszeit gab es häufige Konflikte, unter anderem, weil die Beamten einen Eid auf die Kommission leisten sollten oder weil von der Kommission das Kriegsrecht wegen eines Bergarbeiterstreiks ausgerufen wurde. Insofern gab es im Saargebiet bis zur Machtergreifung Hitlers eigentlich keinen Zweifel an der Rückkehr "heim ins Reich".

Dies änderte sich ab 1933, als Gewerkschafter, Sozialisten und Kommunisten im Saargebiet Zuflucht vor der Naziverfolgung suchten. Doch die Abkehr von Franzosen und Völkerbund war da schon besiegelt. gf

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