Als der Zensus beerdigt wurde

Karlsruhe. Am Tag, als das Bundesverfassungsgericht ein neues Grundrecht schuf, war der Sitzungssaal bis auf den letzten Platz besetzt. Es war der 15. Dezember 1983, und sogar auf den Gängen des Karlsruher Gerichts drängten sich die Zuhörer, die dabei sein wollten, wenn die Volkszählung höchstrichterlich beerdigt würde

 Demonstranten protestieren 1987 in Berlin gegen die geplante Volkszählung. Foto: dpa

Demonstranten protestieren 1987 in Berlin gegen die geplante Volkszählung. Foto: dpa

Karlsruhe. Am Tag, als das Bundesverfassungsgericht ein neues Grundrecht schuf, war der Sitzungssaal bis auf den letzten Platz besetzt. Es war der 15. Dezember 1983, und sogar auf den Gängen des Karlsruher Gerichts drängten sich die Zuhörer, die dabei sein wollten, wenn die Volkszählung höchstrichterlich beerdigt würde. Sie wurden nicht enttäuscht: Der Erste Senat unter Vorsitz von Ernst Benda beanstandete den umstrittenen Zensus und kreierte das "Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung" - den Datenschutz.

Der Streit um die damals geplante Volkszählung hatte in den frühen 80er Jahren eine beträchtliche Dynamik entwickelt. Die Menschen waren nach der sicherheitspolitischen Aufrüstung der RAF-Zeit sensibel geworden für den Schutz ihrer Bürgerrechte. Zudem war die Linke ein protestfreudiges Völkchen: Frankfurter Startbahn West, Stationierung von Mittelstrecken-Raketen, Atomkraft und Umweltverschmutzung - man war dagegen, man bildete Bürgerinitiativen, man organisierte Zeltdörfer und Menschenketten.

Die Volkszählung kam also gerade recht, George Orwells passenderweise auf das Jahr 1984 terminiertes Szenario schien den Menschen plötzlich plausibel. Es sollte die erste Massenverfassungsbeschwerde werden, mehr als 1300 Anträge gingen in Karlsruhe ein. Auch wenn es die Gegner der Massenspeicherung von Telefondaten kürzlich mit Hilfe des Internets auf 34000 brachten - für jene Zeiten, in denen man mit Handzetteln an Infoständen warb, war 1300 eine beachtliche Zahl.

Karlsruhe kippte seinerzeit den so genannten Melderegisterabgleich, der ein Sündenfall war, weil die Verwaltung Informationen in die Hände bekommen sollte, die eigentlich für die anonyme Statistik bestimmt waren. Doch gemessen an den heutigen technischen Möglichkeiten, mit Mautbrücken, Videokameras und Telefondaten genaue Bewegungs- und Kommunikationsprofile zu erstellen, war die Volkszählung harmlos - 1987 fand sie dann doch noch statt.

Manche Sätze aus dem damaligen Urteil lesen sich heute wie naive Wunschträume: "Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß." Heute hat niemand mehr den Überblick über seine Daten: Eine Kommentatorin der "Frankfurter Rundschau" sprach angesichts des jüngsten Gesetzesvorhabens gegen den ausufernden Handel mit Verbraucheradressen von einem "Heuschreckenjäger mit Schmetterlingsnetz". Und doch legte Karlsruhe damals den Grundstein für den Datenschutz mit Formulierungen, die bis heute gelten: Weil persönliche Daten "technisch gesehen unbegrenzt speicherbar und jederzeit ohne Rücksicht auf Entfernungen in Sekundenschnelle abrufbar sind", weil mit "integrierten Informationssystemen" Persönlichkeitsbilder gezeichnet werden könnten, sei ein besonderer verfassungsrechtlicher Schutz notwendig. Geschrieben in einer Zeit, in der man noch auf Schreibmaschinen tippte.

Die Stoßrichtung des Datenschutzes hat sich seither allerdings grundlegend verändert. Damals galt der Staat als der "Große Bruder", der nach allumfassender Überwachung seiner Bürger strebte. Heute soll der Staat Schutz bieten, und zwar gegen die Datengier kommerzieller Unternehmen, für die präzise Informationen über viele Verbraucher bares Geld sind: Den jüngsten Gesetzesentwurf gegen illegalen Datenhandel stellte ausgerechnet Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) vor, der linksliberalen Kritikern auf dem Feld der inneren Sicherheit als der personifizierte "Big Brother" gilt.

Doch die sich häufenden Datenpannen vom Telekom-Skandal bis zum Schwarzmarkthandel mit den Bankverbindungen Millionen Deutscher und dem Kreditkartendaten-Klau bei der Landesbank Berlin von diesem Wochenende zeigen, dass "Big Brother" inzwischen Privatier geworden ist. Über die für 2011 geplante Volkszählung, soeben beschlossen vom Bundeskabinett, regt sich heute niemand mehr auf.

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