25 Jahre nach Brandanschlag in Rostock Als der braune Mob die Kontrolle übernahm
Rostock · Die Bilder gingen um die Welt: 1992 setzten Neonazis in Rostock ein Flüchtlingsheim in Brand – und die Anwohner klatschten Beifall.
Jochen Schmidt wird diese Bilder wohl nie vergessen. „Wenn über einem nur noch eine Spannbetondecke ist und man von unten Schreie hört, Feuerschein sieht und Qualm riecht, es nicht links und nicht rechts geht, dann verlierst du irgendwann den Mut.“ Schmidt hielt sich am 24. August 1992 als Hospitant eines ZDF-Kamerateams in Rostock auf – genauer gesagt im Sonnenblumenhaus in der Mecklenburger Allee im Ortsteil Lichtenhagen, Hausnummer Nummer 19. Vor dem Wohnblock kommt es zu den bis dahin schwersten ausländerfeindlichen Krawallen der Nachkriegsgeschichte.
„Und dann hat da oben eigentlich jeder still für sich mit dem Leben abgeschlossen, muss man einfach so sagen“, erinnert sich Schmidt. Mit rund 150 ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeitern, die in dem Haus wohnten, und Kollegen rettete er sich bis in den elften Stock und dann aufs Dach. Unten griffen Anwohner und Neonazis das Wohnheim für vietnamesische Arbeiter an, setzten es in Brand – unter dem Beifall Tausender Anwohner und „Protesttouristen“.
Im Nachbaraufgang befand sich damals die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber von Mecklenburg-Vorpommern. Wochenlang war sie völlig überfüllt. Alle Asylsuchenden mussten zur Registrierung durch dieses Nadelöhr, bevor sie auf Unterkünfte im ganzen Bundesland verteilt wurden. Viele von ihnen kampierten vor dem Haus – ohne Toiletten und Verpflegung. Die hygienischen Zustände verschlimmerten sich. Es kam zu Diebstählen in Geschäften. Es gab Warnungen und Proteste in der Bevölkerung. Doch die Verantwortlichen reagierten nicht.
Ab dem 22. August eskalierte es. Jugendliche und Anwohner versammelten sich, warfen Steine und Brandsätze auf das Haus und die Polizei. „In den Anfängen waren es die Einwohner vor Ort, die Jugendlichen, die komplett perspektivlos waren“, sagt Ralf Mucha, SPD-Landtagsabgeordneter und Vorsitzender des Ortsbeirates.
Später kamen Neonazis aus ganz Deutschland hinzu, quasi als „Protestouristen“. Und die Situation eskalierte. Die Polizei wurde der Lage nicht Herr. Am 24. August entschieden die Behörden nach langem Zögern, die Aufnahmestelle zu räumen. Von da an richtete sich die Gewalt der Neonazis und der tausenden Schaulustigen endgültig gegen die im Nachbaraufgang lebenden Vietnamesen. Mehrere ihrer Wohnungen wurden kaltblütig angezündet.
Der damalige Ausländerbeauftragte Rostocks, Wolfgang Richter, hielt sich mehrere Tage lang im Haus auf. Er erinnert sich an viele Gespräche mit Anwohnern, die auch gesagt hätten: „Aber die Vietnamesen meinen wir nicht! Mit denen leben wir seit zehn Jahren hier. Das hat ihnen aber nichts genützt. Weil diese fremdenfeindliche Gewalt, einmal ausgebrochen, keine Unterschiede gemacht hat.“ Schmidt sagt aber weiter: „Rostock ist so etwas wie ein Prototyp für rechte Gewalt. Und dafür, wie leicht Agitatoren es schaffen, Massen zu bewegen.“
Die Wiese vor dem Haus, auf der sich die Szenen abspielten, gibt es heute nicht mehr. Seit vielen Jahren ist die Fläche südlich vor dem elfstöckigen Hochhaus bebaut – mit einem Dienstleistungszentrum, einem Heimwerkermarkt und einem Parkplatz. Sie ist zum Mittelpunkt des Stadtteils geworden. Dort gibt es Einkaufsmöglichkeiten, Imbisse und Arztpraxen. „Ich wehre mich dagegen zu sagen, Lichtenhagen ist ein Brennpunktstadtteil. Das ist er nicht“, sagt der SPD-Mann Mucha.
Lichtenhagen, das heißt heute: gut 14 000 Einwohner, rund 4000 weniger als 1992, ein Ausländeranteil von 5,7 Prozent und eine Arbeitslosenquote, die 2015 leicht unter dem Rostocker Durchschnitt lag. „Es ist ein bunt gemischter Stadtteil“, stellt Mucha klar. Mit der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge gebe es keine Probleme. „Die ist akzeptiert, sie wird unterstützt“, betont Mucha.
In der Kurzchronik der Hansestadt, in der die prägenden Ereignisse der Stadtgeschichte notiert sind, fehlt das Jahr 1992. Ebenso wie das Jahr 2004, in dem Mehmet Turgut in Rostock erschossen wurde. Dieser Mord wird dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ zugeschrieben. „Es ist völlig unbegreiflich, wie 1992 und 2004 fehlen können in einer solchen Aufzählung“, sagt Wolfgang Richter aufgebracht.
Von heute an sollen in einer Gedenkwoche an verschiedenen Plätzen thematische Stelen eingeweiht werden. Neben dem Sonnenblumenhaus und dem Rathaus sollen sie auch vor dem Redaktionsgebäude der „Ostsee-Zeitung“, der Polizeiinspektion und dem linken „Jugendalternativzentrum“ stehen. So soll allen Aspekten dieser Ausschreitungen Rechnung getragen werden.