Als der Bolschewismus zu straucheln begannWie die SZ Gorbatschows Rede kommentierte

Moskau. Es ist ein merkwürdiges Bild, das sich im Moskauer Buchladen "Globus" abspielt. Da sitzt der alte Deutsche, der mahnende Patriarch Rolf Hochhuth, und versucht eine Annäherung an sein russisches Publikum. Und da steht der 22-jährige Viktor, Student, und nickt, wenn Hochhuths Sätze übersetzt werden

Moskau. Es ist ein merkwürdiges Bild, das sich im Moskauer Buchladen "Globus" abspielt. Da sitzt der alte Deutsche, der mahnende Patriarch Rolf Hochhuth, und versucht eine Annäherung an sein russisches Publikum. Und da steht der 22-jährige Viktor, Student, und nickt, wenn Hochhuths Sätze übersetzt werden. Dann aber fängt der deutsche Dramatiker ein plötzliches Loblied auf Michail Gorbatschow an, den ersten und letzten Präsidenten der Sowjetunion. Viktor greift zum Mikrofon. "Er ist ein Totengräber", murmelt er. Es ist eine Szene, die sich in ähnlicher Form zuhauf abspielt im heutigen Russland, sobald die Rede auf den Mann mit dem markanten Muttermal kommt. Auch Jahrzehnte nach seinem Rücktritt ist Gorbatschow, der im Westen für seine Politik der Umgestaltung, seine Revolution von oben, die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands steht, in seinem Heimatland vielfach immer noch eine verhasste Figur. Selbst bei Menschen, die teils gar nicht auf der Welt waren, als der mit seinen 55 Jahren vergleichbar junge Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) 1987 die Totalrevision der Sowjetordnung einleitete - bis zu ihrem Untergang im Dezember 1991. Heute vor 25 Jahren trat er vor das ZK-Plenum in Moskau und sprach seinen berühmten Satz: "Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen." Welchen einschneidenden Charakter die danach in Gang gekommenen Prozesse haben würden, vermochte auch Gorbatschow nicht einzuschätzen, wie er später gestand. Doch diese Luft, die "ernsthafte, tiefgehende Demokratisierung der Gesellschaft", fordert der inzwischen 80-jährige Reformer auch heute noch. Zusammen mit Zehntausenden Russen, die am kommenden Wochenende wieder auf die Straße ziehen wollen. Gegen die Politik von Premier Wladimir Putin, der am 4. März wieder zum Präsidenten gewählt werden will.Gorbatschow ist es, der mit "Perestroika" (Umbau) und "Glasnost" (Offenheit) der Welt zwei russische Worte beschert - und sein Land in einen stürmischen Denkprozess versetzt, als er bereits auf dem 27. Parteitag der KPdSU im Februar 1986 von der "Strategie zur Beschleunigung der sozialökonomischen Entwicklung" spricht. Zunächst geht es ihm vor allem um Wirtschaftsreformen. Doch Gorbatschow versteht schnell: Die Wirtschaft erholt sich nicht ohne einen politischen Wandel. "Nur durch Demokratie und dank der Demokratie ist die Umgestaltung erst möglich", teilt er den Parteigenossen vor 25 Jahren mit. "Perestroika" wird zu einem umfassenden Konzept: Die Organe der Staatsmacht sollen reformiert, das Rechtssystem soll überprüft werden. Er kündigt ein neues Wahlsystem an, will Betrieben die Selbstständigkeit gewähren, Bürger ohne Parteibuch in Führungspositionen zulassen. Gorbatschow spricht von Freilassung von politischen Gefangenen, legt Friedensvorschläge für Afghanistan vor, unterbreitet Abrüstungsangebote. Nicht alles gelingt, eines aber ganz sicher: Der Bolschewismus wird zu Grabe getragen. Gorbatschows Konzept musste das auf lückenlose Kontrolle programmierte kommunistische System aus den Angeln heben.

Unter Demokratie aber verstehen viele Russen fälschlicherweise die Anarchie, die sie in den wilden 90er Jahren erfuhren. Es scheint logisch, dass viele nach dieser Zeit des Chaos auf die ordnende Hand von Wladimir Putin und seine "gelenkte Demokratie" setzten - und bald die gewonnenen Freiheiten fast unbemerkt abgaben. In der von Putin interpretierten "Demokratie" entziehen sich die herrschenden Gruppen weitgehend der gesellschaftlichen Kontrolle. Das ist gefährlich für den Staat - das merken die Menschen im Land, die nun immer mehr ihre Bürgerrechte einfordern. Saarbrücken. In der Saarbrücker Zeitung betrachtete der damalige Moskauer Korrespondent Wilfried Schäfer Gorbatschows Reform-Botschaft mit großer Skepsis. In der SZ-Ausgabe vom 28. Januar 1987 war zu lesen: "Kreml-Chef Michail Gorbatschow will die Wahlmodalitäten reformieren. Er selbst nannte das auf der gestrigen Stitzung des Zentralkomitees sogar ,demokratievertiefend', aber das scheint nach westlichen Vorstellungen doch ein wenig hochstaplerisch. (. . .) Alles in allem sollte niemand voreilig wähnen, das Zentralkomitee habe gestern einen Schritt in Richtung auf einen echten Wahlpluralismus diskutiert. Was innerhalb der Staatspartei und den administrativen Räten geschaffen werden soll, ist eine Konkurrenz- oder gar Rivalitätsstruktur völlig innerhalb des oppositionslosen Systems, von der man sich einen stärkeren Zwang zur Verantwortlichkeit des einzelnen Funktionsträgers erhofft." red

"Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen."

Michail Gorbatschow am 27. Januar 1987

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