Alle haben Nachholbedarf

Berlin/Saarbrücken · Die Wirtschaft hat angesichts des drohenden Fachkräftemangels das Arbeiter- oder Migrantenkind als ungenutzte Ressource wiederentdeckt. Doch bei der sozialen Förderung klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Realität.

16 Bundesländer - 16 Schulsysteme und über 100 verschiedene Schulformen: Klein ist die Zahl der Bildungsforscher, die behaupten, sich wirklich in dieser nahezu unüberschaubaren Vielfalt des deutschen Bildungsföderalismus voll auszukennen. Je nach politischer Couleur setzte in der Vergangenheit ein Teil der Länder bei der Schulpolitik fast ausschließlich auf Leistung und harte Auslese, der andere Teil stellte dagegen Forderungen nach Chancengleichheit und mehr höheren Bildungsabschlüssen obenan. Durchgängig erfolgreich war bislang kein Bundesland mit seiner Strategie - wie die zahlreichen internationalen Pisa- und Iglu-Studien, aber auch viele nationale Erhebungen belegen. "Ein gutes Schulsystem vereinbart beide Ziele: Leistung und Chancengerechtigkeit" folgern der Dortmunder Schulforscher Wilfried Bos und sein Jenaer Kollege Nils Berkemeyer. Beide haben für die Bertelsmann-Stiftung einen "Chancenspiegel" erstellt und darin untersucht, wie es in den Schulen der 16 Bundesländern bestellt ist.

"Kein Land ist überall Spitze oder überall Schlusslicht, alle haben Nachholbedarf", so das Fazit von Bos. Allen Ländern gemein ist allerdings "das größte Übel" der deutschen Schulpolitik, dass der Bildungserfolg nach wie vor vor allem von der sozialen Herkunft und der Vorbildung der Eltern abhängig ist. Allerdings gibt es auch hier von Bundesland zu Bundesland große Unterschiede.

So ist in Sachsen beispielsweise der Leistungsabstand bei Grundschülern der oberen und unteren Sozialschichten nur etwa halb so groß wie in Bayern. In Rheinland-Pfalz gelingt die Förderung von ausländischen Mitschülern besser als in vielen anderen Bundesländern - und im Saarland erreichen fast 56 Prozent der Schüler eine Studienbefähigung - in Sachsen-Anhalt sind dies hingegen nicht mal 37 Prozent.

"Bildungsföderalismus macht dann Sinn, wenn die Länder voneinander lernen, sich austauschen und erfolgreiche Modelle für ihr jeweiliges Bundesland übernehmen", sagt Stiftungs-Vorstandsmitglied Jörg Dräger. "Die Länder brauchen einfach für ihre Mammutaufgabe Bildung mehr Geld."

Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung sorgt sich die deutsche Wirtschaft um den Fachkräftenachwuchs von morgen. Nicht nur die Bertelsmann-Stiftung, auch andere Wirtschaftsstiftungen wie etwa Telekom oder Vodafone haben das Arbeiter- und Migrantenkind als ungenutzte Humankapital-Ressource wiederentdeckt. Es gibt im Netz Initiativen wie "arbeiterkind.de".

Doch in der praktischen Schulpolitik klafft aus Sicht der Forscher bei der sozialen Förderung immer noch eine große Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität. Sie setzen dabei vor allem auf den weiteren Ausbau der Ganztagsschulen.

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HintergrundFürs Saarland zeichnet der "Chancenspiegel" ein gemischtes Bild. Positiv ist: Schüler erreichen häufiger die Hochschulreife (55,8 Prozent) als der Schnitt (51,1). Auch ist die Zahl der Sitzenbleiber mit 2,1 Prozent unterdurchschnittlich (2,7). Negativ ist aber: Im Saarland schaffen weniger Schüler (41,2) den Sprung aufs Gymnasium (Schnitt: 42,1). Auch besteht ein erhöhter sonderpädagogischer Förderbedarf (7,3 statt im Schnitt 6,4). pbe

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