751 Sitze und ein Chefsessel

Es ist ein Kreuz mit dem Kreuz. Monatelang haben die Parteien um Wählerstimmen für die Europawahl geworben und sogar zum ersten Mal Spitzenkandidaten benannt.

Fotos: Fotolia, dpa (2)

Fotos: Fotolia, dpa (2)

Doch auf dem Wahlzettel, den die Bundesbürger am Sonntag ausgehändigt bekommen, ist davon wenig oder nur höchst Verwirrendes zu sehen. Wer etwa den konservativen Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker unterstützen will, sucht dessen Namen vergebens. Martin Schulz, die Nummer Eins der Europäischen Sozialdemokraten, wiederum wird genannt - weil er zugleich der führende Kopf der hiesigen SPD ist. Tatsächlich haben die 25 Parteien und Vereinigungen, die in Deutschland antreten, Listen erstellt, von denen man eine ankreuzen kann. Wer also für Juncker votieren will, müsste den Unionsparteien seine Stimme geben.

Mit Hilfe des sogenannten Sainte-Laguë-Verfahrens (benannt nach einem französischen Mathematiker) werden die Stimmen der Parteien durch den gleichen Teiler geteilt: nämlich 96 - die Zahl der Deutschland zustehenden Sitze im Europäischen Parlament. Nach Auf- oder Abrunden steht das Ergebnis fest. Da das Bundesverfassungsgericht die bisherige Fünf- beziehungsweise Drei-Prozent-Hürde gekippt hat, dürfte jede Partei oder Vereinigung, die 0,6 Prozent der Stimmen erreicht, auch in der neuen europäischen Volksvertretung präsent sein.

Bereits ab heute hat der europäische Wähler das Wort. Traditionell finden Wahlen in Großbritannien und den Niederlanden an einem Donnerstag statt, auch die Europawahl. Morgen sind dann die Tschechen und Iren aufgerufen, abzustimmen. Die übrigen 23 Länder folgen am Wochenende. Insgesamt knapp 400 Millionen Wahlberechtigte können ihre Stimme abgeben. Genau genommen handelt es sich um 28 nationale Wahlen, die mangels eines EU-weit angeglichenen Wahlrechtes völlig unterschiedlich ablaufen. Das ist übrigens ein Grund dafür, dass in Luxemburg und Belgien stets bis zu 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger zur Urne gehen. Denn in diesen Ländern herrscht Wahlpflicht. Ansonsten bereitet die Beteiligung den Politikern großes Kopfzerbrechen. Bei der ersten Direktwahl 1979 gaben noch mehr als 62 Prozent ihre Stimme ab, 2009 waren es 43 Prozent.

In diesem Jahr haben die Parteien besonders intensiv um die Wählergunst gerungen, weil sie befürchten, dass eine niedrige Beteiligung vor allem kleine und Rand-Parteien stärken könnte. Sollten die bisherigen Vorhersagen zur erwarteten Berteiligung zutreffen, könnten davon vor allem rechte Gruppierungen und EU-Gegner profitieren. Sie stellten bisher 90 der 766 Europa-Abgeordneten. Bis zu 120 Sitze im verkleinerten Parlament (751 Mandate) traut man ihnen dieses Mal zu. Sie liegen in den Umfragen etwa gleichauf mit den Liberalen auf Rang drei. Vorn konnten die Konservativen sich zuletzt leicht von den Sozialdemokraten absetzen, die Grünen und Linken kamen auf Platz fünf und sechs. Doch ob das Bild stimmt, ist unklar. Die Demoskopen tun sich schwer, es gibt kein verlässliches Datenmaterial. Erst wenn am Sonntag um 22 Uhr die Wahllokale schließen und gegen 23 Uhr die erste europäische Hochrechnung vorliegt, dürfte klar sein, wer im neuen Straßburger Plenum die Mehrheit hat.

Bereits in den ersten Tagen nach der Abstimmung werden wichtige Weichen gestellt. Am Dienstagabend kommen die Staats- und Regierungschefs in Brüssel zusammen, um über Konsequenzen zu reden. Dabei dürfte es bereits um die Frage gehen, ob der Frontmann der siegreichen Parteienfamilie tatsächlich auch zum Präsidenten der Kommission ausgerufen wird. Zum ersten Mal haben die Wählerinnen und Wähler nämlich mit ihrer Stimme auf die Besetzung diese zentralen Jobs in der EU Einfluss. Doch der Kandidat braucht auch die Unterstützung der Staats- und Regierungschefs. Und da wird es kompliziert. Der britische Premier David Cameron will beide nicht, Griechen, Italiener und Spanier halten nichts von einem Deutschen an der Spitze des wichtigsten EU-Gremiums. Und auch Juncker muss sich auf viel Widerstand einstellen. Spätestens beim Gipfeltreffen Ende Juni will man sich einigen - also den Wahlsieger in die Abstimmung des Parlamentes schicken oder aber einen Ersatzmann/eine Ersatzfrau benennen, wenn absehbar ist, dass der Wahlgewinner keine Chancen im Plenum hat. Ein bisschen Zeit bleibt dafür allerdings: Die Amtszeit der jetzigen Kommission unter ihrem Chef José Manuel Barroso endet erst am 31. Oktober.

Auch wenn die Wahlschlacht geschlagen ist, wird es noch einige Tage lang keinen sicheren Überblick über die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse geben. Denn die rund 170 Parteien in den 28 Mitgliedstaaten, die Abgeordnete nach Straßburg entsenden können, haben zwei Wochen Zeit, um ihre Mandatsträger zu melden. Erst wenn diese Namensliste steht, zeichnet sich ab, wer in der ersten Tagungswoche Anfang Juli mit wem eine Fraktion bilden kann.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort