211 Euro, um groß und stark zu werden? Kinderschutzbund: "Das Urteil ist eine Klatsche für die Politik"
Kassel/Saarbrücken. Beifall ist in Bundesgerichten - vorsichtig gesagt - nicht eben üblich. Im Bundessozialgericht in Kassel setzte gestern ein Arbeitsloser dennoch zum Klatschen an, als die rotgewandeten Richter ihren Beschluss verkündeten: Die Begrenzung des Hartz-IV-Satzes für Kinder auf 60 Prozent sei grundgesetzwidrig, das Bundesverfassungsgericht müsse das Gesetz prüfen
Kassel/Saarbrücken. Beifall ist in Bundesgerichten - vorsichtig gesagt - nicht eben üblich. Im Bundessozialgericht in Kassel setzte gestern ein Arbeitsloser dennoch zum Klatschen an, als die rotgewandeten Richter ihren Beschluss verkündeten: Die Begrenzung des Hartz-IV-Satzes für Kinder auf 60 Prozent sei grundgesetzwidrig, das Bundesverfassungsgericht müsse das Gesetz prüfen. Abgeschafft ist die Regelung damit zwar noch lange nicht. Eine scharfe Kritik am Gesetzgeber ist der Beschluss dennoch. Der Kinderschutzbund (siehe Interview) sprach von einer "Klatsche für die Politik", der Paritätische Wohlfahrtsverband von einer "schallenden Ohrfeige" für die Bundesregierung.
Ein Hartz-IV-Empfänger bekommt derzeit 351 Euro monatlich, zusätzlich Miete und Nebenkosten. Für jedes Kind gibt es 211, für einen Jugendlichen 281 Euro. Christine Beyer (Name geändert) aus Saarbrücken-Burbach kann davon ihre Kinder kaum mit allem Nötigen versorgen: "Man muss sich strecken. Jeden Monat. Strecken, so weit es nur geht." Die 43-Jährige zieht ihre Kinder alleine groß, zwei Töchter (17 und sieben) und den zehn Jahre alten Sohn; die Älteste ist schon aus dem Haus. Weniger als 30 Euro hat Christine Beyer jetzt, da der Monat fast vorbei ist, noch in ihrem Geldbeutel. Weil sie sich gut gestreckt hat diesmal, und weil sie wieder geholfen hat bei der Tafel für Bedürftige am Burbacher Markt. Wenn sie dort arbeitet, kann sie sich abends immer ein paar Lebensmittel mitnehmen, falls noch Sachen übrig sind. "Heute gibt es aber nicht viel", sagt Christine Beyer, "kaum Obst, nicht viel Gemüse." Die 30 Euro, die ihr geblieben sind, gehen dann wohl doch wieder für Essen drauf.
Denn ihre Kinder haben Hunger, viel Hunger, vor allem wenn sie vom Fußballtraining kommen. Die beiden Kleinen spielen im Verein, das kann sich Christine Beyer eben noch leisten. Für andere Freizeitbeschäftigungen, für Kino, ein Instrument, einen Tennisschläger, ist kein Geld da. Bleibt daheim die uralte Playstation 1, die Christine Beyer vor einiger Zeit geschenkt bekommen hat.
Unter soziokulturellem Existenzminimum verstehen Juristen den nicht festgelegten Betrag, der für eine Beteiligung am öffentlichen Leben reicht. Es genüge eben nicht, nur zu essen und Kleidung aus dem Secondhand-Geschäft zu haben, auch ein Kinobesuch oder ein Stadtfest müsse mal drin sein. Aber gehört das Interesse eines Mädchens für Markenkleidung oder der Wunsch eines Kindes nach einem Mobiltelefon zum Existenzminimum?
"Markenkleidung kaufe ich grundsätzlich nicht, das ist undenkbar", sagt Christine Beyer: "Die Kinder fragen zwar danach, weil sie es bei anderen sehen, aber es geht nun mal nicht. Sie müssen sich damit abfinden." Gleiches gilt für ein Handy, keine Chance. Die Große hat eins, aber nur weil sie es selbst bezahlt, mit Babysitting bei Bekannten. Das Geld, das sie jeden Monat für die Schule braucht, kann die Große damit aber nicht bezahlen. "Schule kostet nur Geld", sagt Christine Beyer, immer sei irgendetwas anderes, mal Geld für Kopien, mal für den Bus, mal für Lebensmittel für die Kochkurse in der Sozialpflegeschule. Und Klassenfahrten? Ihre Tochter musste schon zu Hause bleiben. "Nur, wenn ich bei Zeiten mit sparen anfangen kann, können die Kinder mit. Und wenn die Verwandten noch was dazu geben."
Klagen wie diese wurden in Berlin durchaus gehört. Die Koalition will das Sozialgeld für größere Kinder zum 1. Juli von 60 auf 70 Prozent des Regelsatzes anheben. Aus 211 würden dann 246 Euro. Hinzu käme noch ein Schulgeld von 100 Euro im Jahr. Ein Schritt in die richtige Richtung, loben Befürworter. Das wird nicht reichen, sagen Kritiker.
Die Bundesregierung jedenfalls reagierte gestern gelassen auf die Entscheidung in Kassel. Das Kabinett habe mit dem Konjunkturpaket bereits einen dritten Kinderregelsatz eingeführt, betonte ein Sprecher des Arbeitsministeriums. Das Urteil des Bundessozialgerichts beziehe sich auf alte Regelungen. "Wir glauben, dass wir schon getan haben, was das Bundessozialgericht sich vorstellt." Zwei von drei beanstandeten Punkten seien bereits berücksichtigt. Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) unterziehe die Regelungen im Übrigen fortlaufenden Prüfungen. Ob die nun auf den Weg gebrachten Verbesserungen ausreichten, werde allerdings erst eine genauere Prüfung des Urteils zeigen. Der Ministeriumssprecher hob hervor, das Gericht moniere "nicht die Höhe des Sozialgelds als unangemessen, sondern kritisiert die Art der Festlegung". Forderungen nach einer grundsätzlichen Neuberechnung der Kindersätze erteilte er eine Absage.
Genau das aber forderte gestern die Caritas. Die Regelsätze müssten schnell nach oben korrigiert werden, weil bislang unter anderem kein "wachstumsbedingter Mehrbedarf" an Kleidung, Spielzeug oder Schulmaterial berücksichtigt worden sei. Für Christine Beyer aus Burbach wäre das ein Segen. Auch wenn sie sich dann immer noch kräftig strecken müsste, um über die Runden zu kommen. Herr Hilgers, sind Sie zufrieden mit dem Urteil des Bundessozialgerichts?
Hilgers: Ich bin sehr froh. Wir predigen schon lange, dass es völlig respektlos ist gegenüber den Bedürfnissen von Kindern, nur 60 Prozent vom Regelsatz eines Erwachsenen vorzusehen. Insbesondere wenn man bedenkt, dass Kinder einen deutlich höheren Bedarf bei Kleidung haben. Sie brauchen in Rekordtempo neue Schuhe oder Hosen. Der Kinderschutzbund sagt daher schon seit Jahren, dass ein eigener Kinderregelsatz entwickelt werden muss.
Welches Signal geht von dem Urteil aus?
Hilgers: Das Urteil ist eine Klatsche für die Politik. Wir selber haben dem Gesetzgeber ja im Sommer eine Bedarfsberechnung für Kinder vorgelegt. Wir sind darin zu dem Ergebnis gekommen, dass die einmaligen Beihilfen wieder eingeführt werden müssen für Kleidung und den Bildungsbedarf. Die Leistungen für Bildung werden ja überhaupt nicht berücksichtigt. Zweitens wäre ein Regelsatz für die unter Sechsjährigen von mindestens 254 statt wie bisher 211 Euro, für Sechs- bis 14-Jährige von 297 Euro und bei den bis zu 18-Jährigen von 321 Euro notwendig.
Im Rahmen des zweiten Konjunkturpakets erhöht die Regierung allerdings den Regelsatz für Kinder von Hartz-IV-Empfängern von 60 auf 70 Prozent.
Hilgers: Das sind 21 Euro mehr. Die Erhöhung gilt aber nur für die Sechs- bis 14-Jährigen. Die anderen gehen leer aus.
Jetzt ist Karlsruhe gefordert. Was glauben Sie, wie das Bundesverfassungsgericht entscheiden wird?
Hilgers: Ich gehe davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht der Regierung eine kurze Frist setzen wird, um zu einem vernünftigen, eigenständigen Kinderregelsatz zu kommen.
Meinung
Ein klarer Erfolg für arme Kinder
Von SZ-Korrespondent
Hagen Strauß
Die Entscheidung des Bundessozialgerichts ist ein klarer Erfolg für jene, die schon immer die Regelungen der Hartz-IV-Sätze für Kinder als willkürlich empfunden haben. Zwar hat das Gericht nicht die konkrete Höhe der Leistungen kritisiert, dafür aber die Art und Weise der Festlegung. Das allein reicht, um die Widersprüchlichkeit zu entlarven, mit der die Politik zum Teil beim Thema wachsender Kinderarmut agiert.
Auf der einen Seite wird die Chancengleichheit für alle unabhängig vom Geldbeutel der Eltern propagiert. In der Realität aber schafft der Gesetzgeber Bestimmungen, die genau jene weiter abhängen, die aus armen Familien kommen. Absurd ist das. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Wer die Leistungen für den Nachwuchs pauschal mit 60 Prozent der Unterstützung ihrer Eltern bemisst, missachtet sträflich die Bedürfnisse von Jungen und Mädchen. So etwas wird sich jemand ausgedacht haben, der nicht weiß, dass Kinder nun mal wachsen und deutlich häufiger neue Kleidung brauchen.
Hintergrund
Einem Kind bis 14 Jahre gesteht der Gesetzgeber 60 Prozent von Hartz IV zu, also 211 Euro. Zum 1. Juli soll dieser Wert bei Sechs- bis 14-Jährigen auf 70 Prozent steigen. Im Saarland leben derzeit rund 19 300 Kinder von Hartz IV, vor einem Jahr waren es rund 21 100. red