20 Jahre Forschung gegen Krebs, Aids und Diabetes

Stockholm · Jede Zelle ist ein riesiges Drehkreuz für Energieträger, Erbgut und Botenstoffe. Für Einsichten in das hochkomplexe Transportsystem erhält auch ein gebürtiger Deutscher den Nobelpreis.

Wie ein Sortierzentrum der Post, nur vielfach komplexer: Jede einzelne Zelle eines Lebewesens muss ständig eine Flut von Stoffen zum richtigen Empfänger bringen. Energie muss angeliefert, wichtige Proteine verfrachtet, Müll abgestoßen werden. Fehler im Ablauf sind Ursache vieler Krankheiten. Randy Schekman, James Rothman und der gebürtige Deutsche Thomas Südhof haben erforscht, wie Moleküle in kleinen Paketen, sogenannten Vesikeln, zur richtigen Zeit an den richtigen Platz gelangen - und bekommen dafür jetzt den Nobelpreis für Medizin. "Die drei Preisträger haben das Geheimnis gelöst, wie die Zellen ihr Transportsystem organisieren", erläutert Juleen Zierath, Vorsitzende des Nobelkomitees.

Ein Mensch besteht aus zehn bis 100 Billionen Zellen, die Tausende verschiedene Aufgaben haben. Zudem haben die Zellen im Schnitt nur etwa 40 Tausendstel Millimeter Durchmesser. Es scheint unfassbar, dass der Transport von Stoffen in diesem komplexen System funktioniert - und das auch noch mit hoher Präzision. Hormone werden ausgeschüttet und lösen Reaktionen aus - Vasopressin und Oxytocin zum Beispiel die Schmetterlinge im Bauch von Verliebten.

Schekman machte verschiedene Gene aus, ohne die der Transport in Zellen im Chaos endet. "Das ist so etwas Fundamentales", sagt Roger Goody, Präsident der Gesellschaft für Biochemie und Molekularbiologie. "Wir würden ohne diese Entdeckung überhaupt nicht verstehen, wie so komplizierte Zellen wie die menschlichen funktionieren."

Rothman klärte an Säugetierzellen auf, dass kleine Mem branbläschen unterschiedlichste Moleküle transportieren. Er zeigte, dass diese Vesikel mit der Membran ihres Zieles verschmelzen. Zudem fand er heraus, dass es Proteine auf den Vesikeln gibt, die nur zu bestimmten Gegenstücken in der Zielmembran passen - ähnlich wie die Seiten eines Reißverschlusses. Nur an diesen Stellen geben die Bläschen ihre Fracht frei. In der Folge stellte sich heraus, dass einige der von Schekman aufgespürten Gene Baupläne für solche Markierungen auf den Membranen enthielten.

Südhof erforschte, wie Nervenzellen miteinander kommunizieren. Auch die Botenstoffe im Gehirn werden über Vesikel weitergeleitet - also den von Schekman und Rothman entdeckten Mechanismus. Südhof identifizierte eine Reihe von Proteinen, über die der Prozess zeitlich hoch präzise abläuft.

Die Entdeckung sei ein langer Prozess, erklärt Jan Andersson vom Nobelkomitee. "Er begann 1980 und endete irgendwo um 2002 - das waren über 20 Jahre Forschungsarbeit." Störungen des Membrantransports sind Symptome oder Ursachen schwerer Krankheiten wie Mukoviszidose, Diabetes und Krebs. Etliche therapeutische Ansätze basieren auf der Arbeit des Trios. So gibt es Versuche, HIV-Infektionen mit Stoffen zu beherrschen, die bestimmte Membranfusionen unterbinden. Bei Diabetes ist die Steuerung der Insulin-Ausschüttung ein Ziel. Krebs-Mediziner erforschen die Bedeutung der Zell-Zell-Kommunikation für das Tumorwachstum: Viele Tumorzellen setzen Vesikel frei, die Proteine und Erbmaterial zu anderen Zellen transportieren. Zudem wird daran gearbeitet, Nanopartikel als Vesikel einzusetzen, um giftige Krebs-Mittel gezielter nur am Tumor freizusetzen. Das könnte Chemotherapien verträglicher machen.

Angesichts der immensen Bedeutung ihrer Forschungen ist klar: Ganz überraschend ist der Nobelpreis für keinen der drei Forscher gekommen.

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HintergrundDer Nobelpreis in Medizin wurde schon häufiger nach Deutschland verliehen. Bereits der erste Preis ging 1901 an den Arzt Emil von Behring für eine Therapie gegen Diphtherie. Vier Jahre später wurde Robert Koch für seine Entdeckungen zur Tuberkulose ausgezeichnet. Paul Ehrlich, Begründer der Chemotherapie, erhielt den Preis 1908 für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Immunologie. Der in Berlin geborene Max Delbrück, Mitbegründer der modernen Molekularbiologie und Genetik, wurde 1969 geehrt, Christiane Nüsslein-Volhard erhielt 1995 als erste und bisher einzige deutsche Wissenschaftlerin den Medizin-Nobelpreis - für ihre Forschung zur frühen Embryonalentwicklung. 2008 wurde Harald zur Hausen ausgezeichnet. Er hatte nachgewiesen, dass das Humane Papilloma-Virus (HPV) Gebärmutterhalskrebs auslöst. afp