1964: Das Jahr der vielen Kinderlein

Berlin/Saarbrücken · 1964 war ein besonderes Jahr. Vor einem halben Jahrhundert gab es den geburtenstärksten Jahrgang in Deutschland. 1,357 Millionen Menschen kamen zur Welt. Die Babyboomer hatten im echten Leben mehr Freunde als viele heute auf Facebook haben.

Fußball-Weltmeister Jürgen Klinsmann gehört dazu, Moderator Johannes B. Kerner, Ex-Ministerin Ilse Aigner, Frauenfußball-Nationaltrainerin Silvia Neid, Spaßmacher Hape Kerkeling, Oscar-Preisträgerin Caroline Link, Schwimm-Star Michael Groß - und Nicole. Die berühmte Sängerin, 1982 erste deutsche Gewinnerin des Eurovision Song Contest und seither die wohl bekannteste Saarländerin, wurde am 25. Oktober 1964 geboren. Sie zählt damit zu einer sehr besonderen Spezies: den 64ern, dem geburtenstärksten Jahrgang der deutschen Geschichte.

So voll sind die Schulklassen vorher nie gewesen. Und danach sind sie es niemals mehr geworden. Genau 1 357 304 "Lebendgeborene" wurden 1964 vom Statistischen Bundesamt für die Bundesrepublik und die DDR registriert. 2012 war es nur noch rund die Hälfte: 673 500. "Kinder kriegen die Leute immer", hat Bundeskanzler Konrad Adenauer einmal gesagt. Dass er sich ausgerechnet in diesem Punkt irren würde - wer hätte das seinerzeit für möglich gehalten?

In der ersten Hälfte der 60er Jahre bekamen noch viele deutsche Ehepaare jedes Jahr ein Kind. Deshalb hatte man damals weder die Muße noch den Anspruch, originelle Namen zu finden. Von wegen Torben Lennox, Chantalle Marie oder Celine Kimberley: Mädchen hießen Sabine, Susanne, Martina oder Andrea, Jungen Thomas, Michael, Andreas, Stefan oder Stephan - meist konfessionsabhängig: Stephan war die katholische Variante. Jochen Arntz, selbst Jahrgang 1965, hat ein schönes Buch über die 64er geschrieben. Er empfand das Leben oft wie die berühmte Reise nach Jerusalem - ständig musste man aufpassen, dass man noch einen Platz abbekam. Doch er sieht auch manchen Vorteil: "Wenn man dann doch einen Studienplatz bekommen hatte und mit Hunderten anderen im Seminar saß, hatte es auch etwas vom Start beim New York Marathon: Es waren viele, alle hatten das gleiche Ziel und alle waren zuversichtlich, dass sie auf der Strecke viel erleben würden."

Die Babyboomer hätten Sachen erlebt, "die man nicht erlebt, wenn nicht ganz viele Leute dabei sind". Und: "Wir hatten mehr Freunde in echt als viele heute auf Facebook haben." Die Eltern sagten damals noch nicht: "Du musst los zur Klavierstunde", sondern: "Geh' raus spielen!" Das tat man dann auch. Irgendwer war immer auf dem Spielplatz - oder auf der Straße. Dieses "Fülle-Gefühl" begleitet die 64er durchs Leben. Aber sind sie deshalb schon eine richtige Generation so wie die 68er, also die kurz nach dem Krieg Geborenen, die Deutschland später umkrempelten?

Der Historiker Paul Nolte glaubt das nicht. "Geburtsjahrgänge gibt es natürlich immer, aber zu einer Generation werden sie erst dann, wenn sie so etwas wie eine innere kollektive Bewusstwerdung erfahren", sagt Nolte ("Generation Reform"). "Sie müssen nicht unbedingt gleich eine Revolution machen, aber doch ein Bewusstsein dafür haben, dass sie vor gemeinsamen Herausforderungen stehen." In diesem Sinne seien die Babyboomer der Jahre 1963, '64 oder '65 eine "verlorene Generation". Nolte sieht sie als eine "sehr unauffällige und normale, auch pragmatische Generation, die einfach da ist, ihre Arbeit macht und den Karren weiterzieht".

Buchautor Arntz glaubt, dass diejenigen, die in den 60ern geboren wurden, eine starke Skepsis gegenüber den 68ern eint. "Weil diese Vorgänger-Generation damals schon alles besser wusste und heute noch immer alles besser weiß. Wer das nicht mag, wird pragmatisch, nüchtern - auch das eint die Babyboomer. Sie haben erfahren, dass es nicht immer besser werden kann im Leben, und sie gehen ganz gut damit um."

Jochen Arntz: 1964 - Deutschlands stärkster Jahrgang, Süddeutsche Zeitung Edition, 288 Seiten, 19,64 Euro.

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