100 Tage nach Brücken-Einsturz Das unerhörte Leiden von Genua

Genua/Rom  · Seit dem Brückeneinsturz im August leben die Bürger der geteilten Stadt im Chaos.

 Am 14. August stürzte die Morandi-Brücke in Genua ein.

Am 14. August stürzte die Morandi-Brücke in Genua ein.

Foto: dpa/Antonio Calanni

Sie hatten zwei Stunden Zeit, um ein ganzes Leben einzupacken. Vor einigen Tagen durften die ehemaligen Bewohner der Häuser unter der eingestürzten Morandi-Brücke in Genua zurück in ihre Wohnungen. Feuerwehrleute begleiteten jeweils zwei Familienmitglieder, die dann in Windeseile ihr Hab und Gut einpacken sollten. Die Wohnhäuser müssen wohl abgerissen werden. 50 Kisten waren gestattet, zwei Stunden Zeit. „Das war nicht gerade viel“, sagt Giusy Moretti, eine der Betroffenen. Beim Einsturz des Viadukts am 14. August kamen nicht nur 43 Menschen ums Leben, mehr als 650 Personen verloren ihr Zuhause. Viele von ihnen kommen täglich zurück an den Rand der „roten Zone“. Die heute wegen Einsturzgefahr der noch stehenden Pfeiler gesperrte Gegend war früher der Mittelpunkt ihres Lebens.

Knapp 100 Tage sind seit dem Einsturz vergangen. Beim Staatsbegräbnis einiger Opfer im August applaudierten die Menschen den herbeigeeilten Politikern. Das wäre heute wohl kaum der Fall. Denn der Schock ist einem Gefühl von allgemeinem Frust gewichen.

Genua ist drei Monate nach dem Einsturz eine geteilte und ins Chaos gestürzte Stadt. Details zum Wiederaufbau gibt es nicht, nicht einmal für den Abriss der noch stehenden Brückenpfeiler. Bürgermeister Marco Bucci sagt: „Wenn wir alle an einem Strang ziehen, werden wir die Brücke aufbauen, aber auch die Glaubwürdigkeit Italiens in kurzer Zeit wieder herstellen. Wenn wir hingegen streiten, machen wir das, wofür wir im Ausland berüchtigt sind.“ Im Moment sieht es eher nach der zweiten Option aus. Seit dem Brückeneinsturz erstickt die 600 000-Einwohner-Stadt im Verkehrschaos. Weil die wichtigste Verbindungsachse zwischen Westen und Osten unterbrochen ist, auf der jährlich 28 Millionen Fahrzeuge fuhren, staut sich der Verkehr auf den Umgehungsstraßen. 100 000 Anwohner des Polcevera-Tals, über das die Autobahnbrücke führte, müssen weite Umwege fahren. Wer morgens in den westlichen Stadtteilen den Nahverkehr nutzen will, steht Schlange. Das Gewerbegebiet im Westen Genuas wird kaum noch angefahren. Transportunternehmen sind zu kostspieligen Umwegen gezwungen. „Jede Fahrt kostet mich 100 Euro mehr“, schimpft Transportunternehmer Aldo Spinelli. Die Morandi-Brücke war die zentrale Achse – auch für Fernfahrer aus Spanien und Frankreich, die Waren nach Mittelitalien bringen wollten. Für die Stadtbewohner kommt hinzu: Seit Wochen herrscht ein Müllchaos. Eine Deponie wurde durch den Einsturz in Mitleidenschaft gezogen.

Als sei der Gestank nicht genug, sind auch die Nachrichten aus Rom nicht gerade aufmunternd. Fast zwei Monate hat die Ernennung des Sonderkommissars gedauert, der Bauaufträge vergeben kann und den Wiederaufbau koordinieren soll. Zum Kommissar wurde Bürgermeister Bucci ernannt. Der erklärte, der Abriss der noch stehenden Brückenteile soll am 15. Dezember beginnen, das neue Viadukt werde Ende 2019 stehen. Als „völlig unrealistisch“ bezeichnen Kenner diese Prognose. Allein die Einrichtung der Baustelle könne ein halbes Jahr dauern.

Auch in der Aufarbeitung der Schuldfrage ist man nicht weiter. Erst vor wenigen Tagen verabschiedete die Regierung ein Notfalldekret. Darin wird unter anderem festgehalten, dass der Autobahnbetreiber Autostrade per L‘Italia die Baukosten für die neue Brücke übernehmen soll. Der Konzern soll die Wartung der Brücke vernachlässigt haben. Ein Prozess soll die genauen Hintergründe klären. Und wie lange dieser dauern wird, ist kaum abzusehen.

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