Helmut Schmidt würde 100 Schmidt würde der SPD vom Linkskurs abraten

Berlin/Hamburg · Einmal nahm Sigmar Gabriel seine Frau mit zur „Audienz“. „Wir waren beim lieben Gott“, sagte sie danach. Die Treffen liefen immer gleich ab, Helmut Schmidt stellte Gabriel eine Höflichkeitsfrage, kurze Antwort.

 Helmut Schmidt im Jahr 2013: Er gab noch im hohen Alter den Welterklärer.

Helmut Schmidt im Jahr 2013: Er gab noch im hohen Alter den Welterklärer.

Foto: dpa/Ralf Hirschberger

Dann über 20 Minuten Referat Schmidts zur Weltlage, rauchgeschwängert von den Mentholzigaretten.

Kein Wort zu Willy Brandt und immer die Frage: „Du hast doch auch gegen mich gestimmt?“ Gemeint war der Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung von US-Atomraketen in Deutschland. „Ja“, antwortete Gabriel, aber er müsse rückblickend sagen: „Du hattest Recht“.

Darauf Schmidt: „Du gibst es wenigstens zu!“ Eine Million Menschen demonstrierte damals dagegen. Letztlich führte aber die von US-Präsident Ronald Reagan durchgesetzte Aufrüstung dazu, die Sowjetunion finanziell und wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Am 23. Dezember wäre Schmidt 100 Jahre alt geworden.

Schmidt wurde eigentlich erst nach seiner Kanzlerschaft (1974-82) durch kluge Einwürfe als Herausgeber der „Zeit“ zum Mentor der Nation – über seinen Verdruss mit den aktuellen Zeitläuften machte er kurz vor seinem Tod im November 2015 keinen Hehl. „Es zeichnet politische Führer wie Churchill, de Gaulle oder Adenauer aus, dass sie nicht nur die nächste Wahl, sondern auch das langfristig Notwendige im Blick haben“, schrieb er in seinem letzten Buch „Was ich noch sagen wollte“. „Der Trend, nur noch in Legislaturperioden zu denken, hat seither erheblich zugenommen.“

Was Schmidt wohl heute über Koalitionskrisen wegen eines Paragrafen 219a zum Werbeverbot von Abtreibungen denken würde, während derweil die westliche Allianz zerbricht, China seine globale Macht ausbaut und Großbritannien im Bre­xit-Chaos versinkt? Und ein Helmut Schmidt würde an „Fake News“ und Oberflächlichkeit verzweifeln. Er lebe mit seinem Werben für internationale Kooperation und ein gemeinsames Europa weiter, betont Vize-Kanzler Oaf Scholz (SPD). Der SPD würde Schmidt heute zu mehr Attacke raten und von hektischen Kurswechseln nach links abraten, glaubt Scholz.

Schmidt war eine der prägenden Figuren der Bundesrepublik, die die Lehren aus der finsteren Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs in politisches Handeln umzusetzen versuchte. Er wurde ein Motor der europäischen Einigung, begründete die G7-Treffen – und warb unermüdlich für die deutsch-französische Aussöhnung. Den Hamburgern ist unvergesslich, wie Schmidt als Innensenator in seiner Heimatstadt die Folgen der Flutkatastrophe von 1962 bewältigte. Und immer an seiner Seite: Loki. 68 Jahre waren sie verheiratet. Sie starb im Herbst 2010.

Für viele bleibt aus der Zeit als Kanzler vor allem das Bild des „Mannes von Mogadischu“, der den Terroristen RAF die Stirn bot. Er und Loki ließen schriftlich hinterlegen, dass sie sich im Falle einer Entführung nicht gegen inhaftierte Terroristen austauschen lassen wollen.

In der „Zeit“ schrieb Gabriel jüngst über Schmidt: „Auf wenige trifft der Begriff Jahrhundertgestalt so sehr zu wie auf Helmut Schmidt.“ Schmidt sei eben kein blutleerer Macher und distanzierter Welterklärer gewesen. „Dieser überzeugte europäische Patriot war ebenso ein feinsinniger Kulturmensch und ein an Karl Poppers Denken geschulter Erfahrungsphilosoph, der sein politisches Handeln aus ethischer Verantwortung und aus der Pflicht, dem Gemeinwohl zu dienen, ableitete“, so Gabriel. „Schon das verband ihn zeitlebens mit seiner Partei, die sich wie keine andere den Zusammenhalt des Gemeinwesens zur Aufgabe gemacht hat.“ Doch auch Gabriel weiß, um das Erbe Schmidts ist es in der SPD nicht zum Besten bestellt.

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