Todeswarnung an die Zukunft

Bure · Atommüll gibt über Zehntausende Jahre gefährliche Strahlung ab. Französische Forscher überlegen darum, wie man die Menschen der Zukunft vor atomaren Endlagern wie in Bure warnen kann. Dass diese so sprechen, wie wir heute, ist unwahrscheinlich.

 Eine Mimik, die man auch in zehntausend Jahren noch versteht? Auf der Suche nach Warnsymbolen brachten Forscher auch Edvard Munchs Gemälde „Der Schrei“ ins Spiel. Foto: Arken Museum/dpa

Eine Mimik, die man auch in zehntausend Jahren noch versteht? Auf der Suche nach Warnsymbolen brachten Forscher auch Edvard Munchs Gemälde „Der Schrei“ ins Spiel. Foto: Arken Museum/dpa

Foto: Arken Museum/dpa

Vor 30 000 Jahren bevölkerte der Neandertaler Europa, vor 10 000 Jahren wurde der Mensch sesshaft, vor 5000 Jahren wurden die Pyramiden erbaut. Wie mag die Welt in 10 000 oder 100 000 Jahren aussehen? Schwer zu sagen. Sicher ist jedoch, dass der Atommüll , den wir heute produzieren, dann immer noch strahlt. Plutonium 239 hat eine Halbwertzeit von 24 000 Jahren, Jod 129 gar von 16 Millionen Jahren. Wie können die Menschen der Zukunft vor dem giftigen Müll gewarnt werden? Werden sie eine der heutigen Sprachen sprechen? Wohl kaum. Experten gehen davon aus, dass sich der Wortschatz einer Sprache innerhalb von 8000 Jahren komplett auswechselt. Werden sie Warnsymbolen die selbe Bedeutung zuordnen wie wir? Eher nicht. Schon heute werden Symbole je nach Kultur unterschiedlich interpretiert.

Wie also lässt sich verhindern, dass unsere Nachfahren aus Versehen oder aus Neugier genau dort buddeln, wo unterirdisch die strahlenden Abfälle gelagert sind? Mit dieser Frage befasst sich eine kleine Gruppe von Forschern der Andra ("Agence Nationale pour la Gestion des Déchets Radioactifs"), jener Behörde, die in Frankreich für den Atommüll zuständig ist und im lothringischen Bure ein Endlager bauen will.

Erstmals kam das Thema in den 80er Jahren auf, als das amerikanische Energieministerium eine "Task Force" von Wissenschaftlern einsetzte, um ein Warnsystem zu entwickeln. Die Experten schlugen eine Art atomares Stonehenge vor, jener keltischen Kultstätte, die bis heute Rätsel aufgibt: Obelisken, die den Gefahrenbereich abstecken, beschriftet mit Warnhinweisen in sechs Weltsprachen und Zeichnungen, die die tödlichen Folgen eines Eindringens abbilden.

Unter den Wissenschaftlern war auch der amerikanische Semiotiker Thomas Sebeok. Der Zeichentheoretiker bezweifelte, dass irgendeine Sprache so lange überdauern könnte und plädierte für eine mündliche Überlieferung. Sebeok ersann das Konzept einer "atomaren Priesterschaft": Eine Elite-Gruppe von Wissenschaftlern sollte das Wissen um die Kernkraft kontrollieren und das unwissende Volk durch falsch gelegte Fährten, etwa Mythen und Rituale, von den gefährlichen Orten fernhalten.

Im deutschsprachigen Raum war der Berliner Semiotiker Roland Posner der Erste, der das Thema aufgriff. Er bat internationale Wissenschaftler um Beiträge für die von ihm herausgegebene "Zeitschrift für Semiotik " (1984), die er 1990 nochmal in einem Buch ("Warnungen an die ferne Zukunft") zusammenfasste. Darin schlug etwa der Sozialwissenschaftler Philipp Sonntag vor, sämtliche Dokumente in einer Art künstlichem Mond im All zu speichern. Das italienisch-französische Forscherteam Françoise Bastide und Paolo Fabbri hatte die Idee, Katzen gentechnisch so zu verändern, dass sich ihr Fell verfärbt, wenn sie Strahlung ausgesetzt sind. Doch wer vermag zu sagen, ob die Menschen im Jahr 11 984 sich nicht von Strahlenkatzen angezogen fühlen?

Die Andra setzt heute auf ein ganzes Bündel von Maßnahmen; die "eine Wunderlösung" gebe es nicht, heißt es bei der Behörde. Eine endgültige Entscheidung fällt ohnehin erst im Jahr 2125, wenn das geplante Endlager im lothringischen Bure versiegelt werden soll. Der digitalen Technik vertrauen die Forscher nicht: Was heute modern ist, kann schon in zehn Jahren veraltet sein. Wer benutzt beispielsweise heute noch Disketten? Deshalb lässt die Andra alle Daten auf Permanentpapier aus reiner Zellulose drucken, das widerstandsfähiger als normales Papier sein soll. Bei der Wiederaufbereitungsanlage im nordfranzösischen La Hague ist so ein Archiv mit über 11 000 Dokumenten entstanden. In der Überlegung sind zudem Warnsymbole, angelehnt etwa an Edvard Munchs Gemälde "Der Schrei". Immer wieder gibt es in Bure zudem "Tage der offenen Tür": Das Wissen um die Existenz des künftigen Endlagers soll so im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft verankert werden.

Vor kurzem hat die Andra die Kunst als Medium der Überlieferung entdeckt. Im April 2015 rief sie einen Wettbewerb aus: Künstler sollten Lösungen finden, wie die Erinnerung weitergegeben werden kann. Gewonnen hat Alexis Pandellés "Prométhée oubliée", der vergessene Prometheus. Pandellé versteht das Endlager als Wunde, die ins Erdreich geschlagen wird, über der sich eine Kruste bildet: Mehrere Schichten aus Beton, Granit und Glas, darin eingraviert Piktogramme. Realisiert werden die Projekte nicht zwangsläufig. Für Patrick Charton, Leiter des Erinnerungsprogramms dienen sie eher dazu neue Überlegungen in der Forschung anzustoßen.

Doch ist es tatsächlich möglich, Wissen über einen Zeitraum hinweg zu erhalten, der die bloße Vorstellungskraft übersteigt? Roland Posner, der diese Frage vor 30 Jahren in Deutschland erstmals stellte, sieht es pragmatisch: "Es geht darum, keine der Möglichkeiten, die wir haben, zu verschenken." Posner vertritt ein Konzept, das dem von Sebeok ähnelt, sich aber in einem zentralen Punkt unterscheidet: Die Institution, die das Wissen um die Kernkraft weiterträgt, müsste demokratisch legitimiert sein. "Sebeoks Atompriesterschaft wäre eine monströse Bedrohung für die Gesellschaft, wenn sie sich verselbständigte", sagt Posner. Sie hätte viel Macht, die sie ausnutzen könnte. Posner hält einen demokratisch gewählten Zukunftsrat, der das Wissen um die Atomkraft weiterträgt, für die beste Lösung - und nicht nur das, auch Gen- und Weltraumtechnik müssten auf diese Weise begleitet werden, sagt Posner, denn: "Alle diese Techniken greifen weit in die Zukunft hinein." Der Zukunftsrat müsste langfristige Interessen der Menschheit vertreten, "die von Politikern, die jeweils nur vier Jahre im Amt sind, nicht berücksichtigt werden". Jeder Staat, auch die Vereinten Nationen, müssten eine Zukunftskammer einrichten.

Angesichts der Tatsache, dass heute große Mengen Atommüll erzeugt werden und dieser über Jahrtausende hinweg eine Gefahr für alle Lebewesen darstellt, erscheint Posner die Lösung dieses Problems als "eine der dringendsten Aufgaben unserer Zeit". Doch passiert sei bislang "enttäuschend wenig".

Zum Thema:

Hintergrund Seit dem Jahr 2000 werden im lothringischen Bure , etwa 150 Kilometer von der saarländischen Grenze entfernt, in einem Untertagelabor die Bedingungen für ein Atommüll-Endlager erforscht. Sollte die französische Regierung 2018 die Genehmigung erteilen, wird das Endlager gebaut. Ab 2025 soll dann der langlebige mittel- und hochradioaktive Abfall ganz Frankreichs in Bure entsorgt werden: 80 000 Kubikmeter insgesamt. Er macht nur drei Prozent des Atommüll-Aufkommens aus, enthält aber 99 Prozent der Radioaktivität und strahlt bis zu 100 000 Jahre lang. noe

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