Terror-Prozess in Paris „Das Grauen der Terrornacht kehrt zurück“- Ein Überlebender des Bataclan berichtet

Paris · Der Prozess um die Anschläge des 13. November 2015 erschüttert die Opfer. Ein Überlebender des Bataclan berichtet.

 Der Tag des Terrors am 13. November 2015 in Paris hat sich ins Gedächtnis der Franzosen eingebrannt, ein Prozess reißt jetzt die Wunden wieder auf: Extremisten hatten 130 Menschen getötet und Hunderte verletzt. Das Foto zeigt Helfer bei der Rettung einer Frau aus dem Konzertsaal Bataclan.

Der Tag des Terrors am 13. November 2015 in Paris hat sich ins Gedächtnis der Franzosen eingebrannt, ein Prozess reißt jetzt die Wunden wieder auf: Extremisten hatten 130 Menschen getötet und Hunderte verletzt. Das Foto zeigt Helfer bei der Rettung einer Frau aus dem Konzertsaal Bataclan.

Foto: AP/Thibault Camus

Als Christophe Naudin am Abend des 13. November 2015 sein Smartphone aus der Tasche holte, stand das islamistische Terrorkommando schon vor dem Eingang zum Pariser Konzertsaal Bataclan. Um 21.44 Uhr machte der bärtige 46-Jährige ein Erinnerungsfoto, drei Minuten später fielen die ersten Schüsse. Der Lehrer dachte an Feuerwerkskörper, bis er den hasserfüllten Blick eines Attentäters sah, dessen Gesicht vom Feuer der Kalaschnikow erhellt wurde. „Von dem Moment an war ich wie ferngesteuert.“ Er erinnert sich, dass er vorne zur Bühne flüchtete und dabei über am Boden liegende Körper stieg.

Neben der Bühne fand Naudin einen engen Verschlag, wo er sich zusammen mit 20 anderen verbarrikadierte. Zweieinhalb Stunden lang stand er dort regungslos an die Wand gepresst, hörte die Schüsse und Explosionen, durch die 90 Menschen starben. Erst als ihn die Polizei aus seinem Versteck befreite, sah er das ganze Ausmaß der brutalen Szenen, die sich nur ein paar Meter von ihm entfernt abgespielt hatten. Im Gespräch erspart er sich und anderen die Details, doch in seinem Buch „Journal d’un rescapé du Bataclan“ (Tagebuch eines Überlebenden des Bataclan) schreibt er: „Ich sehe von weitem mehrere Leichen, unter denen mir ein Mann mit einem weißen T-Shirt auffällt. Ich sehe sein Gesicht nicht, aber ich sehe sein Gehirn aus seinem Kopf fließen, eine dicke weiße Soße.“ Naudin erinnert sich an den toten Konzertbesucher so genau, weil er im Moment seines Anblicks wieder anfing, Gefühle zu empfinden. „Ich spürte auf einen Schlag einen großen Schmerz und eine große Ungerechtigkeit: Was hatte er getan, um das zu verdienen?“

Jahrelang kämpfte Naudin gegen die alptraumhaften Bilder jener Nacht, die wie Gedankenblitze immer wieder von seinem inneren Auge erschienen. Erst mit einer speziellen Traumatherapie bekam er sie aus dem Kopf – ebenso wie die Gerüche und Schreie. Nun drohen die Gespenster zurückzukommen: Seit gut drei Wochen läuft nämlich der Prozess um die Anschläge des 13. November, der das Grauen im Gerichtssaal wieder auferstehen lässt. Naudin ist seit Prozessbeginn noch schreckhafter geworden, schläft schlecht und kann sich schwer konzentrieren. Außerdem ist er immer und überall extrem wachsam. Dennoch will er mit einer Aussage Mitte Oktober an der kollektiven Erinnerung an den Terror mitschreiben. Auf ein Blatt Papier werde er vorher in Stichwörtern notieren, was er vor Gericht zu Protokoll geben wolle. „Wie bei einer mündlichen Prüfung.“ Die wichtigsten Punkte weiß er schon: Von seiner Mutter will er reden, die für ihn in der Terrornacht um drei Uhr morgens Nudeln kochte. Deutlich gealtert sei sie durch das, was sie gemeinsam mit ihm durchgemacht habe, berichtet der Sohn. Auch Vincent will er erwähnen, seinen Freund, der mit ihm zum Konzert gegangen war. Drei Kugeln töteten den Familienvater, der eine Frau und zwei Kinder hinterlässt. Naudin verlor ihn im Chaos aus den Augen und erfuhr erst zwei Tage später, dass er erschossen worden war.

Er hofft, dass der Prozess nun nicht nur klären wird, was genau am 13. November 2015 passierte, sondern auch wie die Anschläge geplant und organisiert wurden. Die bisher schmerzlichsten Erkenntnisse brachte ihm die Aussage des Polizisten Patrick Bourbotte, der nach dem Anschlag um fünf Uhr morgens ins Bataclan gekommen war, um die apokalyptische Szene zu protokollieren. „Wir schritten durch geronnenes Blut, inmitten von Knochen- und Zahnsplittern und Telefonen, die vibrierten. Und inmitten von Leichen, Leichen, Leichen“, sagte der Beamte vor Gericht. Einige Überlebende verließen den Saal, weil sie die Schilderungen nicht ertrugen. Dabei hatte Richter Jean-Louis Périès auf Fotos oder Videos bewusst verzichtet. Von einer Tonaufzeichnung, die die gesamten zweieinhalb Stunden des Terrorangriffs mitlief, ließ er nur die ersten Sekunden abspielen. Zu hören ist darauf die Musik der Gruppe Eagles of Death Metal, die von Schüssen und Schreien unterbrochen wird.

Auch wenn er den Anfang des Bandes bereits gekannt habe, sei die Aussage Bourbottes nicht gerade einfach für ihn gewesen, sagt Naudin in der ihm eigenen, nüchternen Art. Der Geschichtslehrer, der sich im Studium mit dem Islam des Mittelalters befasste, fand nach den Anschlägen in ein äußerlich normales Leben zurück. Er unterrichtete weiter, ging eine Beziehung ein, die vor kurzem zerbrach, besuchte Konzerte und Restaurants. Wenn er über die Terrornacht spricht, klingt er ruhig und emotionslos. Ein innerer Schutzmechanismus, wie ihn viele Überlebende entwickelten.

Eine zweite, äußere Schutzschicht entstand mit den Kontakten zu anderen Opfern. „Wir haben ja in der Terrornacht viel Zeit im Bataclan verbracht. Daraus ist eine Solidarität entstanden, die heute noch anhält.“ Aus Überlebenden wurden Freunde, von denen sich viele der Opfervereinigung Life for Paris anschlossen. Sie treffen sich regelmäßig, um zu reden. Vor allem darüber, wie es ihnen jetzt geht. Das Gerichtsverfahren lässt sie nun noch näher zusammen rücken. Am Ende besonders schwieriger Tage trinken sie in der Brasserie gegenüber dem Justizpalast noch etwas und lassen die Dinge sacken. Eine kollektive Trauerarbeit, die alles erträglicher macht.

Naudin war auch im Gerichtssaal, als der einzige Überlebende des Terrorkommandos, Salah Abdeslam, gleich zu Prozessauftakt in seiner Box hinter Sicherheitsglas mit islamistischen Sprüchen provozierte. „Es war, als würde mich ein Gewicht nach unten ziehen“, erinnert er sich. Zum Glück habe der Richter, der bisher einen guten Job mache, den Angeklagten mit einer trockenen Replik in die Schranken gewiesen.

 Glaubt nicht, dass sich seine innere Wunde nach dem Prozess schließen wird: Christophe Naudin.

Glaubt nicht, dass sich seine innere Wunde nach dem Prozess schließen wird: Christophe Naudin.

Foto: Naudin

Als Lehrer hofft Naudin, dass das neunmonatige Mammutverfahren um die Anschläge mit insgesamt 130 Toten auch einen pädagogischen Effekt haben wird. Dass klar wird, wie es zu dem Terror kommen konnte und wie die Attentate die Gesellschaft veränderten. Für sich selbst glaubt Naudin nicht, dass sich nach dem Urteil im Mai die innere Wunde schließen wird. „Es ist nicht so einfach, zu etwas anderem überzugehen.“ Ihm, der einen so stabilen Eindruck macht, graut es vor dem Tag, an dem der Prozess zu Ende ist. „Was wird dann aus uns werden?“, fragt er sich. Der enge Kontakt mit den anderen Überlebenden, die Vereinigung Life for Paris – all das wird dann an Bedeutung verlieren. Und das Interesse der Öffentlichkeit wird sich auf andere Katastrophen richten. „Es wird dann an uns allein liegen, die Erinnerung wachzuhalten.“

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