System Erdogan droht das Aus

Istanbul · Recep Tayyip Erdogan dominiert die politische Szene der Türkei seit über einem Jahrzehnt. Am Sonntag haben seine Landsleute die Wahl: Wollen sie Erdogan die Flügel stutzen oder ihn noch mächtiger machen?

In der Türkei stimmen die Wähler an diesem Sonntag nicht nur über ein neues Parlament ab, sondern auch über die Macht-Ambitionen ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdogan . Der 61-Jährige hat in den vergangenen Jahren ein Gefüge aus Loyalitäten und Begünstigungen aufgebaut, das nur bei einem erneuten deutlichen Wahlsieg seiner Regierungspartei AKP weiter bestehen kann. Für viele Erdogan-Kritiker im Land ist die Wahl deshalb eine Gelegenheit, dieses System Erdogan aus den Angeln zu heben.

Vor dem Wahltag ist bei vielen Wählern das Gefühl spürbar, dass Erdogan zu mächtig geworden ist. Die "Erdogan-muss-gestoppt-werden"-Partei sei inzwischen die größte des Landes, sagt der Publizist Ates Ilyas Bassoy. Ob hier der Wunsch der Vater des Gedankens ist, wird sich zeigen.

Erdogan hat die Wahl zu einer Volksabstimmung über seinen Plan zur Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei erklärt. Kritiker werfen ihm vor, er wolle Regierung und Parlament kaltstellen und alle Macht an sich reißen, ohne gleichzeitig Kontrollmechanismen zu schaffen, die etwa in den USA die Befugnisse des Präsidenten begrenzen.

Die Vor- und Nachteile des Präsidialsystems bilden aber nur einen Aspekt. Es geht vor allem um die Frage, "ob die Leute von Erdogan genug haben", wie es der Kolumnist Okay Gönensin formuliert. Erdogan dominiert die politische Szene der Türkei seit über einem Jahrzehnt wie kein anderer Politiker seit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk . Nun haben die Türken zu entscheiden, ob sie Erdogan die Flügel stutzen oder ihn noch mächtiger machen wollen.

Erdogan, der 2003 als Ministerpräsident antrat und im August vergangenen Jahres zum Präsidenten gewählt wurde, ist nicht zuletzt wegen der Erfolge seiner Wirtschaftspolitik zum politischen Superstar geworden. In der politischen Arena brach er den undemokratischen Machtanspruch der putschfreudigen türkischen Militärs und ermöglichte den lange benachteiligten fromm-konservativen Anatoliern neue Aufstiegschancen. Zumindest in der ersten Phase seiner Ära brachten politische Reformen mehr Freiheitsrechte für alle.

Heute geht Erdogan rücksichtslos gegen angebliche oder tatsächliche politische Gegner vor. Er ließ 2013 die Gezi-Proteste zusammenknüppeln und würgte Korruptionsermittlungen gegen seine Regierung ab. Unliebsame Kritiker überzieht er mit Beleidigungsklagen und Strafanzeigen. Laut einer Umfrage finden inzwischen 56 Prozent der Türken, die Meinungsfreiheit sei in Gefahr.

In Ankara fußt das System Erdogan auf einem Netzwerk aus Abhängigkeiten und Loyalitäten, in dessen Zentrum er selbst steht. Der Präsident sieht sich als oberster Repräsentant des "nationalen Willens", Säuberungsaktionen haben tausende Anhänger des vom Unterstützer zum Erzfeind gewordenen islamischen Predigers Fethullah Gülen aus der Polizei und der Justiz entfernt; die Geschassten wurden durch Erdogan-treue Beamte ersetzt. Auch als Präsident, der sich laut Verfassung aus der Tagespolitik heraushalten muss, hält er die Fäden in der Regierung und in der AKP fest in der Hand. Das System Erdogan beruht auf der Tatsache, dass er viele wichtige Entscheidungen alleine trifft - und deshalb Gunst gewähren oder verweigern, Karrieren beschleunigen oder beenden kann.

Meinung:

Entscheidung für Jahrzehnte

Von SZ-MitarbeiterinSusanne Güsten

Die gut 54 Millionen Wähler in der Türkei entscheiden am Sonntag über die Zusammensetzung ihres Parlamentes für die kommenden vier Jahre - doch die Wahl ist auch eine Vorentscheidung für einen radikalen Wandel, der von Präsident Erdogan gefordert wird. Die politische Ordnung im wichtigen Nato-Staat an der Grenze zur Unruheregion Nahost könnte auf Jahrzehnte hinaus verändert werden.

Erdogan verlangt eine Umstellung von einer parlamentarischen Demokratie auf ein Präsidialsystem und will diesen Wechsel einleiten, wenn seine Regierungspartei AKP bei der Wahl eine Mehrheit für die nötigen Verfassungsänderungen erhält. Der eigentliche Knackpunkt liegt jedoch nicht in der System-Diskussion und auch nicht in Erdogans persönlichem Machtstreben. Mit der Präsidenten-Herrschaft will er die Vormachtstellung der islamisch-konservativen Türken auf Dauer festschreiben.

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