Staatsmann oder Massenmörder?

Den Haag · Zum ersten Mal in seiner Geschichte urteilt der Internationale Strafgerichtshof über einen amtierenden Politiker. Gestern eröffneten die Richter das Verfahren gegen Kenias Vize-Präsidenten William Ruto.

Schon der Prozessauftakt in Den Haag gleicht einem Staatsakt: Der Angeklagte fährt mit einer dunklen Limousine am Gerichtsgebäude vor. Der helle Anzug sitzt tadellos. Im Publikum sitzen keine Opfer, sondern Anhänger. Immerhin handelt es sich um William Ruto (46), den amtierenden Vizepräsidenten Kenias. Zum ersten Mal steht am Dienstag ein hochrangiger Politiker vor den Richtern des Internationalen Strafgerichtshofes. Er wird beschuldigt, den Tod von rund 1300 Menschen nach den Präsidentenwahlen 2007 angeordnet zu haben.

"Nicht schuldig", ist das Einzige, was er an diesem ersten Tag, an dem die wichtigsten Formalien besprochen werden, von sich gibt. Chefanklägerin Fatou Bensouda, selbst Afrikanerin aus Gambia, ist dagegen überzeugt, dass dieser Mann und sein politischer Weggefährte, Uhuru Kenyatta (sein Verfahren beginnt im November), die volle Verantwortung für die Gräueltaten tragen, die man ihnen vorwirft. Hunderte Frauen und Kinder wurden damals vergewaltigt und abgeschlachtet. Jungen und Männer mit Buschmessern zerhackt. Am 1. Januar 2008 starben einige hundert Menschen in der Kirche von Kiambaa bei einem Feuer. "Ein Unglück", heißt es in den Unterlagen der Verteidiger Rutos. "Massenmord" sagt die Chefanklägerin. Die Türen der Kirche waren von außen verbarrikadiert worden. Zeugen gibt es genügend. Ob sie jedoch offen auftreten und aussagen, weiß niemand. "Sie riskieren ihr Leben und das ihrer Angehörigen für die Gerechtigkeit", sagte Bensouda vor dem Prozess. Denn die Betroffenen würden zu Hause offen bedroht. Andere wurden, während Ruto in Den Haag sitzt, vom amtierenden kenianischen Präsidenten regelrecht gekauft. Erst vor wenigen Tagen tauchte Kenyatta bei denen auf, die seit sechs Jahren in einem Flüchtlingscamp leben, verteilte Schecks und appellierte an die Vertriebenen: "Ihr wisst, was vor uns liegt. Wir werden das bewältigen, dafür bitten wir um Eure Gebete."

Das Verfahren stellt eine Bewährungsprobe auch für den Gerichtshof selbst dar. Dieser weitere Anlauf, afrikanische Politiker zu verurteilen, hat auf dem Kontinent viele Widerstände ausgelöst. "Der Internationale Strafgerichtshof sollte aufhören, immer nur afrikanische Spitzenpolitiker ins Visier zu nehmen", sprang Ugandas Außenminister Henry Okello Oryem der Führung des Nachbarlandes zur Seite. Die hat es tatsächlich geschafft, den Prozess zu einer Kraftprobe hochzustilisieren: Strafgericht gegen Afrika. Längst können viele Menschen vor Ort nicht mehr nachvollziehen, was der Afrika-Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Daniel Bekele, formuliert: "Über Jahrzehnte sind all jene, die die kenianischen Wahlen in ein Blutbad verwandelten, mit Mord davongekommen. Dieser Prozess nimmt sich der Straflosigkeit in dem Land an und bietet eine Chance für Gerechtigkeit, die den Kenianern von ihrer Regierung vorenthalten wurde." Das, so heißt es bei Menschenrechtlern vor Ort, sei zwar durchaus richtig. Aber viele Einwohner haben dennoch Angst: Denn was würde passieren, wenn die internationale Gemeinschaft die beiden wichtigsten Politiker des Staates zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt? Dann, so heißt es, könnten deren Anhänger die Opposition dafür verantwortlich machen und dann seien neue Gewaltexzesse nicht ausgeschlossen.

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