Schotten wollen vielleicht doch weg

London/Edinburgh · Im Londoner Regierungsviertel geht die Angst um: Neuen Umfragen zufolge könnten die Schotten Ernst machen mit der Unabhängigkeit in eineinhalb Wochen. Eines ist klar: Die Abstimmung wird sehr knapp.

Als aus vagen Gerüchten konkrete Zahlen wurden, blieb im Londoner Regierungsviertel vielen die Luft weg. Erstmals waren in einer Umfrage ganz knapp mehr Schotten für die Unabhängigkeit als dagegen: 51 zu 49 Prozent. "Jetzt wird es richtig ernst" - diese Erkenntnis traf gestern so manchem im Süden der Insel wie ein Schlag, eineinhalb Wochen, bevor die Schotten im Norden zur Urne gehen.

Das hatte Medien-Mogul Rupert Murdoch zuvor auf Twitter vorhergesagt: Die Umfrage im Auftrag der "Times" werde schockieren. Er behielt recht, dabei war die Entwicklung absehbar. Im Frühjahr war klar, dass die Unabhängigkeit mehr ist als nur eine Schnapsidee, doch ihre Gegner kamen lange nicht in Schwung. Nachdem die Commonwealth-Games Schottland im Sommer in ein weiß-blaues Fahnenmeer verwandelt hatten, kletterten die Umfragewerte des "Yes"-Lagers immer weiter. Dass es jetzt knapp die Nase vorn hat, ist folgerichtig.

Das Ergebnis bedeutet nicht, dass Schottland am 18. September "Bye, bye" sagt zur Union. Erstens kommt eine andere Umfrage zum umgekehrten Ergebnis. Zweitens haben sich YouGov gegenüber nur 47 Prozent für die Unabhängigkeit ausgesprochen, die "Weiß nicht"-Antworten sind bei den 51 Prozent herausgerechnet. "Ein Unterschied von zwei Prozentpunkten ist zu gering, als dass wir eine zuverlässige Vorhersage machen könnten", sagt YouGov-Chef Peter Kellner. Aber jetzt ist endgültig klar, dass das Rennen zur Unabhängigkeit ganz knapp ausgehen wird.

London bleiben also zehn Tage, um den Zerfall des Königreichs zu verhindern. Zuletzt sahen die Politiker dabei eher hilflos aus. Labour-Chef Ed Miliband warb wenig überzeugend dafür, dass mit einem Wahlsieg seiner Sozialdemokraten bei den Unterhauswahlen im Mai doch alles besser werde. Dann sprach er über neue Grenzen - und sprang damit auf den Zug von Schwarzmalerei und Drohung auf, der bei den Schotten höchstens Trotz hervorruft.

David Cameron verbrachte die vergangenen Tage auf dem Nato-Gipfel. Bei den Schotten, die eher weniger als mehr Militär wollen, dürfte er damit kaum gepunktet haben. Für den Premierminister sieht es düster aus, wenn er flächenmäßig ein Drittel seines Landes verliert. Seine Regierung versucht nun eine Art politischen Bestechungsversuch: Die Schotten sollten mehr Rechte bekommen, etwa bei der Steuer- oder Finanzpolitik, kündigte Schatzkanzler George Osborne an.

Diese Idee ist nicht neu, Schottlands Regierungschef Alex Salmond wollte sie sogar beim Referendum mit auf den Stimmzettel schreiben. Cameron hat das verhindert. Bei einer reinen Rein-oder-raus-Entscheidung würden die Schotten sich nicht trauen, zu gehen, so sein Kalkül. Er lag falsch.

Etwas Wind könnte London dem "Yes"-Lager mit den Zugeständnissen aus den Segeln nehmen. Umfragen zufolge wünschen viele Schotten sich einen Mittelweg: Mehr Eigenständigkeit, aber kein endgültiger Abschied aus der Union. Dafür können sie am 18. September nun zwar nicht stimmen. Aber eine glaubhafte Alternative zum Weiter-wie-bisher dürfte manche dazu bringen, ihr Kreuzchen bei "No" zu setzen auf die Frage, ob Schottland ein unabhängiger Staat sein soll.

Wo alle Argumente seit Wochen ausgetauscht sind, entscheiden aber wohl letztlich Emotionen über die Zukunft der rund 5,3 Millionen Schotten. Dem Redetalent und Charisma eines Alex Salmond haben die Rest-Briten dabei wenig entgegen zu setzen. Eine Chance hätte sicher die Queen, denn an der Monarchie will Schottland festhalten. Doch Elizabeth II. bezieht politisch grundsätzlich nicht Stellung. Dass sie besorgt ist, wie es von einer "hochrangigen Palastquelle" in der Times heißt, ist schon das Äußerste an royaler Beteiligung.Als die Schotten vor 307 Jahren dem Königreich beitraten, wurden sie nicht nach ihrer Meinung gefragt. Jetzt stimmen rund vier Millionen Menschen darüber ab, ob Schottland diese Aktion rückgängig machen soll. Mehr Demokratie geht nicht.

Dass die Stimmung gerade kippt, haben sich auch die Befürworter des Status Quo zuzuschreiben. Deren Kampagne bestand vor allem darin, Schreckensbilder zu verbreiten. Die Unabhängigkeitsbewegung dagegen zeigte eine positive, eine fortschrittliche Vision auf. Wie auch immer das Ergebnis ausfallen wird, nach der Abstimmung lautet die Herkulesaufgabe, die Bevölkerung wieder zu einen, die zuletzt leidenschaftlich polarisiert hat. Denn auch das gehört zur Demokratie. Den Mehrheitsbeschluss zu akzeptieren.

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