Russland an der Schwelle einer langen Krise

Russland ächzt unter den EU-Sanktionen und dem Ölpreisverfall. SZ-Korrespondent Klaus Donath sprach mit Lew Gudkow, dem Direktor des unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum in Moskau.

Russland steckt in der Krise, es regt sich aber kein öffentlicher Unmut. Warum?

Gudkow: Wir befinden uns in einer sehr tiefen Krise. Es ist keine zyklische mehr, sondern eine Systemkrise, aus der es keinen wirklichen Ausweg mehr gibt. Die Perspektiven sind nicht ermutigend. Alles läuft auf eine dauerhafte Depression hinaus, ähnlich wie in Argentinien. Nur ein radikaler Bruch würde Abhilfe schaffen. Aus sich selbst heraus schafft das System die Erneuerung nicht mehr. 70 Prozent der Russen gehen davon aus, dass das Land an der Schwelle einer langen und schweren Krise steht.

Wen trifft die Krise am härtesten?

Gudkow: Zunächst jene Kreise, die bislang gut versorgt waren. Dies ist vor allem die konservative Provinz, die auch Putins Basis darstellt. Sie hat Schwierigkeiten, sich selbst zu organisieren, ist aber im Dulden und Ertragen sehr erfahren. Sie verlangt auf allen Ebenen Kontrollen, nicht nur der Preise. Außerdem fordert sie mehr staatliche Unterstützung. Am schwersten trifft es die Geringverdiener. Längst hat Inflation bei Lebensmitteln die 20-Prozent-Marke hinter sich gelassen.

Wer wird für die wirtschaftliche Malaise verantwortlich gemacht?

Gudkow: Der gesunkene Ölpreis und die Sanktionen des Westens waren es zunächst. In letzter Zeit nennen 20 bis 25 Prozent auch die Kosten für die Krim.

Wird die Politik denn nicht zur Rechenschaft gezogen?

Gudkow: Nein, noch sind ausreichend Reserven an Hoffnung und Geduld vorhanden. In den zehn Jahren (2002-2012) stieg der Lebensstandard bei allen wie nie zuvor in der russischen Geschichte. Dieses Verdienst wird Präsident Putin zugeschrieben und stattet die Menschen mit Geduld aus.

Heißt das, die Politik kann tun und lassen, was sie will?

Gudkow: Russland hat ein anderes Verhältnis zu Politik. Russen verstehen darunter die großen historischen Linien. Wenn das Journal "Forbes" Putin etwa zum Politiker von Weltgeltung erhebt. Dass die Wirtschaft zu scheitern droht, bringen sie mit Politik und dem Präsidenten nicht in Verbindung. Der Russe nimmt die Führung als eine Interessengruppe wahr, auf die er keinen Einfluss hat. Bei uns überwiegt die Vorstellung, dass der Mensch Material ist und der Staat darüber verfügen kann. Die Regierung hängt nicht vom Wohlwollen der Menschen ab, sondern umgekehrt.

Im Westen wird die Wirksamkeit der Sanktionen oft bezweifelt. Haben sie etwas ausrichten können?

Gudkow: Die Sanktionen sind außerordentlich wichtig. Es muss aber immer klargestellt werden, dass sie sich gegen korrupte Beamte und nicht gegen die Bevölkerung richten. Am Anfang wurde das bei uns auch so wahrgenommen. Erst die Propaganda konnte das ins Gegenteil verkehren. Dennoch ist sich ein Drittel der Bevölkerung darüber im Klaren, dass die Sanktionen als Strafe für die Annexion der Krim gedacht sind. Je länger die Sanktionen anhalten, desto klarer wird, warum sie verhängt wurden: weil die russische Führung gegen internationales Recht verstoßen und allgemeingültige Regeln missachtet hat.

Das ausführliche Interview lesen Sie unter www.saarbruecker-zeitung.de/interviews

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