Per Zeitmaschine auf den Spuren des Fenner Harz

Völklingen · „Living history“ – lebendige Geschichte – heißt eine Methode, die Vergangenes greifbar machen soll. Im Saarland gibt es erst eine Gruppe, die sich auf dieses Terrain wagt: die Völklinger Mythenjäger, eine stadtgeschichtliche Initiative der Volkshochschule.

 Eingeschworenes Team (von links): die Mythenjäger Hendrik Kersten, Susanne Rist und Horst Schillinger. Foto: DietzeEin kulinarischer Mythos des Saarlandes: Fenner Harz wurde lange hierzulande hergestellt. Und auch jetzt, wo die Produktion ins Rheinland verlegt ist, gehört der süße Brotaufstrich für viele Saarländer morgens auf den Frühstückstisch.Foto: Grafschafter Krautfabrik

Eingeschworenes Team (von links): die Mythenjäger Hendrik Kersten, Susanne Rist und Horst Schillinger. Foto: DietzeEin kulinarischer Mythos des Saarlandes: Fenner Harz wurde lange hierzulande hergestellt. Und auch jetzt, wo die Produktion ins Rheinland verlegt ist, gehört der süße Brotaufstrich für viele Saarländer morgens auf den Frühstückstisch.Foto: Grafschafter Krautfabrik

Foto: DietzeEin kulinarischer Mythos des Saarlandes: Fenner Harz wurde lange hierzulande hergestellt. Und auch jetzt, wo die Produktion ins Rheinland verlegt ist, gehört der süße Brotaufstrich für viele Saa

Die Fischzucht ein Riesenflop, das City-Center krachend gescheitert, die Stadtwerke in Not - Völklingen hält den Rekord der Negativschlagzeilen. "Wir sind für die guten Nachrichten zuständig", sagt Hendrik Kersten und schildert sein nächstes Vorhaben: die erste Saar-Meisterschaft im "Haarzschmiereesse". Das klingt nicht nach seriöser Forschung, ist es aber. Denn vor den Spaß am 11. Oktober hat Kerstens stadtgeschichtliche Arbeitsgruppe an der Völklinger Volkshochschule exakte Recherchen geschaltet. Dokumentiert wird in einem Booklet die Produktionsgeschichte eines kulinarischen Saar-Mythos, des Fenner Harzes.

Seit 2011 graben Kerstens "Mythenjäger" - das Stammteam besteht aus Susanne Rist, Michael Samsel und Horst Schillinger - unter der abgewetzten Gegenwartsoberfläche Völklingens nach legendären historischen Momenten. Die führen meist zurück in die blühende, reiche, vitale Vergangenheit der Hüttenstadt. Denn die aktuelle Tristesse ist ein vergleichsweise kurzes Phänomen in deren Historie. Davor? Sorgten beispielsweise sechs Kinos für Glamour. Filmstars wie Hans Albers schauten vorbei. 2011 ließen die Mythenjäger - es war ihr erstes Projekt - eine Retro-Filmpremieren-Party steigen: roter Teppich, Blitzlichtgewitter. Passanten wurden zu Statisten. Wobei es sich bei den Mythenjäger-Events nicht um klassisches Reenactment handelt, nicht um ein wort- und kostümgetreues Nachspielen von Historie. Das kennt Kersten nur zu gut, denn er ist Mitglied beim Saarlouiser Traditionsverein "Die Dreißiger", trägt bei deren szenischen Spektakeln preußische Montur. In Völklingen läuft die Sache anders, als überraschende Mitmach-Aktion, die zwar einen Kern von "Darstellern", aber kein festes Drehbuch hat. "Es ist keine Show, sondern pralles Leben. Wir werfen einige Minuten lang die Zeitmaschine an", sagt Kersten. Improvisationen sind der Garant für einen hohen Unterhaltungsfaktor.

"Unsere Aktionen haben etwas von Guerillataktik", sagt Kersten. Die Formulierung steht für den Sprung, den die Heimatkunde mit der "Living history" machen könnte. Letztere wird gerade von Museen und Universitäten als ernst zu nehmende Methode der Erinnerungsarbeit entdeckt. Im Saarland ist die Mythenjäger-Initiative nach Einschätzung des Saarländischen Museumsverbandes noch einzigartig. "Die Heimatkunde braucht Revitalisierung, der Begriff schreckt viele ab, obwohl sie sich für ihre Wurzeln interessieren ", sagt Sabine Geith vom Museumsverband. Geschichtserlebnisse zu kreieren, hält sie für einen zukunftsweisenden Ansatz, der die Heimatmuseen aufwerten könne, als Schatztruhen für lokale Geschichten.

Das erfuhr auch der Niederrheiner Kersten, als er, der 1984 als Kunstgeschichtsstudent ins Saarland gekommen war, eine Stelle im Warndtmuseum annahm. Dort entdeckte er Begeisterndes - und wunderte sich, warum es Geheimwissen blieb. "All das Spannende, was Heimatkundler entdecken, verschwindet in dicken Büchern." Kersten selbst wechselte ins Weltkulturerbe Völklinger Hütte, ist heute dort Projektleiter, lebt in Völklingen . Mittlerweile weiß er bestens, wie professionelle Vermittlungsarbeit aussieht. Das pfiffige Marketing für die Mythenjäger-Projekte lässt die Grewenig-Schule erkennen. "Alles Mythos oder was?" - unter diesem munteren Titel startete Kersten seinen ersten VHS-Kurs. Und Susanne Rist biss an - auch sie keine gebürtige Saarländerin, aber eine Frau mit Interesse an der Vergangenheit und dem Willen, sich im Saarland stärker zu verwurzeln. "Es hörte sich irgendwie modern an", sagt Rist. "Ein trockener Stadtgeschichts-Kreis hätte mich nicht interessiert." Stattdessen "urbane Mythen " - das hatte was von Pioniergeist und Abenteuer. Bis heute sei die Mythenjäger-Arbeit das geblieben, sagt Rist. Ihre anfänglichen Hemmungen, Menschen "ein Stück Geschichte einfach so vor die Füße zu werfen", längst abgelegt. Der Erfolg beflügele ungemein: Bürger und Lokalpolitiker fragten nach dem nächsten Thema: "Wer hätte gedacht, dass es ein solcher Erfolg wird?", fragt Rist. 2013 holten sich die Mythenjäger den saarländischen Weiterbildungspreis. Längst hat die intensive Projektarbeit in der Vierergruppe den Hobbystatus übersprungen. Nächtelang wird mitunter malocht. "Wir möchten dazu beitragen, mehr Stadt-Stolz zu stiften. Völklingen ist ein zu Unrecht vergessenes Pflaster. Es wäre doch ein Jammer, die Geschichten liegen zu lassen." Stadtfolklore? Nein, so klingt wohl neues Heimat-Selbstbewusstsein.

 2014 ließen die Mythenjäger in Geislautern den historischen Dampfwagen wieder aufleben. Foto: Ruppenthal

2014 ließen die Mythenjäger in Geislautern den historischen Dampfwagen wieder aufleben. Foto: Ruppenthal

Foto: Ruppenthal
 Eingeschworenes Team (von links): die Mythenjäger Hendrik Kersten, Susanne Rist und Horst Schillinger. Foto: DietzeEin kulinarischer Mythos des Saarlandes: Fenner Harz wurde lange hierzulande hergestellt. Und auch jetzt, wo die Produktion ins Rheinland verlegt ist, gehört der süße Brotaufstrich für viele Saarländer morgens auf den Frühstückstisch.Foto: Grafschafter Krautfabrik

Eingeschworenes Team (von links): die Mythenjäger Hendrik Kersten, Susanne Rist und Horst Schillinger. Foto: DietzeEin kulinarischer Mythos des Saarlandes: Fenner Harz wurde lange hierzulande hergestellt. Und auch jetzt, wo die Produktion ins Rheinland verlegt ist, gehört der süße Brotaufstrich für viele Saarländer morgens auf den Frühstückstisch.Foto: Grafschafter Krautfabrik

Foto: DietzeEin kulinarischer Mythos des Saarlandes: Fenner Harz wurde lange hierzulande hergestellt. Und auch jetzt, wo die Produktion ins Rheinland verlegt ist, gehört der süße Brotaufstrich für viele Saa

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HintergrundDie erste saarländische Meisterschaft im "Haarzschmiereesse" läuft unter dem Titel "Mythos Fenner Harz - Süßes vom Acker". Es geht um die Geschichte des Zuckerrübensirups, der in einem Stadtteil von Völklingen - in Fenne - zwischen 1883 und 1973 produziert wurde (Lolly Werke Erich Kolb KG, dann Storck). Die historische Nachstellung (Reenactment) findet in Form eines Mannschafts-Wettessens statt, am 11. Oktober um 14 Uhr, in Völklingen , Saarbrücker Straße, Turnhalle. Die bisherigen Projekte der Mythenjäger: Historische Kinonacht "100 Jahre Völklinger Filmtheater" (2011), "Mythos Schichtwechsel. Aufstieg und Fall des Völklinger Kneipenquartiers" (2012), "Mythos Gründerzeit /Carl (Röchling) der Kühne" (2013), Mythos Dampfwagen (2014). Infos: Tel. (0 68 98) 3 92 71 oder www.mythen-jaeger.de ce

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