Ohne Zuhause auf den Straßen von Saarbrücken

Saarbrücken · Schulden, Ärger mit dem Vermieter, Zwangsräumung – Gründe, warum Menschen plötzlich auf der Straße stehen, gibt es viele. Doch im Saarland bieten verschiedene Einrichtungen Obdachlosen Hilfe an.

 Ralf sitzt in der Notschlafstelle der Awo in Malstatt – unter der Brücke will er nie wieder übernachten.

Ralf sitzt in der Notschlafstelle der Awo in Malstatt – unter der Brücke will er nie wieder übernachten.

 Thorsten Lillig von der Awo und Heinz Schuh vom Saarbrücker Sozialamt unter der Johannisbrücke: kein Obdachloser da. Fotos: Dietze

Thorsten Lillig von der Awo und Heinz Schuh vom Saarbrücker Sozialamt unter der Johannisbrücke: kein Obdachloser da. Fotos: Dietze

Plötzlich hängt da dieser Zettel an der Tür. "Ihre Wohnung wurde zwangsgeräumt", steht darauf, handgeschrieben. Die Tür ist zugesperrt, das Schloss ausgetauscht. Es ist Donnerstagabend, Ralf ist gerade aus St. Wendel zurückgekommen, wo er eine Woche lang einen Kumpel besucht hat. Jetzt steht er vor einer Wohnung in Saarbrücken , die eben noch seine war, und kommt nicht rein. Mit einem Mal hat er kein Heim mehr, und er weiß nicht wohin. Ralf verbringt die Nacht unter der Bismarckbrücke.

Fünf Tage später, am frühen Dienstagmorgen, sitzt er im Aufenthaltsraum der Notschlafstelle der Arbeiterwohlfahrt (Awo) in Malstatt. Ralf hat dort vergangene Nacht in einem Bett geschlafen, "das war herrlich", sagt er. Er freut sich über das Badezimmer, über die Dusche. Müde Augen hat er unter der Kappe, auf der "Biker" steht. Ralf ist unrasiert, seine Stimme klingt rau.

Thorsten Lillig und Heinz Schuh tappen über Gras, durch Büsche, so viel Grün, vor ihnen die Saar, über ihren Köpfen fahren Autos hinweg. Sie sind unter einer Autobahnbrücke in Güdingen. Lillig, Sozialarbeiter bei der Awo, und Schuh vom Saarbrücker Sozialamt schauen, so wie jeden Dienstagmorgen, ob hier ein Obdachloser übernachtet hat. Einmal die Woche nehmen sie einen kleinen Bus, auf dem "SOS Express" - für Suppe, Obdach, Solidarität - geschrieben steht, und fahren die gängigsten Schlafstellen in Saarbrücken ab. Lillig hat sich eine Zigarette angezündet, die Erwartung, hier tatsächlich jemanden zu treffen, ist gering. Neben einem Brückenpfeiler hat zwar jemand einen Schlafplatz hergerichtet, mit gesammeltem Laub, der ist aber schon seit einer Weile verwaist. In der Nähe liegen leere Flaschen, alte Schuhe , Klamotten. "Keiner da", sagt Schuh. "Gott sei Dank."

In Saarbrücken muss eigentlich niemand unter der Brücke leben. Macht auch fast keiner. Es gibt die Notschlafstelle, die Herberge zur Heimat, das Bruder-Konrad-Haus - alles Einrichtungen, die sich direkt an Wohnungslose richten und einen Schlafplatz bieten. Die Stadt mietet außerdem Wohnungen an, um Menschen, die ihre Bleibe verloren haben, schnell wieder ein Dach über dem Kopf geben zu können.

Er kenne ja Leute, erzählt Ralf in der Notschlafstelle, die freiwillig draußen lebten. Aber nein, er wolle das nicht. Ralf sitzt auf einer Bierzeltgarnitur im Aufenthaltsraum, um ihn einige andere Männer, die Zeitung lesen, Kaffee trinken. Sie verströmen den Geruch von kaltem Zigarettenrauch und ungewaschenen Kleidern. Die Stimmung ist irgendwie freundlich, man fühlt sich akzeptiert, wenn man durch die offene Tür eintritt, oder, genauer: nicht gemessen. Auf der Straße dagegen, erzählt Ralf, "muss man aufpassen. Das ist höllisch." Alles werde einem geklaut, am besten kette man seine Habseligkeiten an sich fest. "Man beklaut doch niemanden", sagt Ralf und schüttelt leicht den Kopf. Dabei saß er bis vor rund einem Jahr noch selbst im Knast. Wegen Einbruchs. Unschuldig, versichert er.

Während der sieben Monate, die er inhaftiert war, wollte ihm sein Vermieter kündigen, weil Ralf die Wohnung habe verwahrlosen lassen. Wieder auf freiem Fuß, wollte Ralf das nicht einsehen, reagierte aber irgendwann trotzig und müllte die Wohnung erst recht voll. Dann erfolgte die Zwangsräumung. Ralf ging unter die Brücke, mit fünf, sechs Euro in der Tasche. Das reichte für einen Beutel Tabak und etwas Essen. Unverhofft traf er auf der Straße bald eine freundliche Seele, einen völlig Unbekannten, der es gut mit ihm meinte und ihm zwei Schlüssel gab: einen für eine Tiefgarage, und den zweiten für einen abgemeldeten, fahruntauglichen VW Käfer darin. "Nicht sehr bequem, aber immerhin trocken”, sagt Ralf.

Der "SOS Express" parkt inzwischen an der Dudweiler Landstraße am Rande der A623. Lillig und Schuh stapfen einen Waldweg hinauf, der unter die Johannisbrücke führt. Der Boden ist übersät mit Kondomverpackungen; ein Straßenstrich ist gleich um die Ecke. Unter der Brücke angekommen, zeigt sich schnell: Auch hier ist niemand. Leere Weinflaschen, alte Schuhe , zerrissene Klamotten, der immer gleiche Kram. Menschen waren hier, aber nicht kürzlich.

Lillig und Schuh fahren weiter, an einen Ort, von dem sie glauben, dass sie wahrscheinlich jemanden antreffen werden. Ostbahnhof, eine kleine Schrebergartensiedlung. In einem der Gärten, hinter einer Holztür, die mit altem Graffiti verschmiert ist, werkelt ein alter Mann mit langem weißem Bart. Robert Kremer ist in Saarbrücken kein Unbekannter, als Flaschensammler, der immer mit seinem Fahrrad unterwegs ist, gehört er quasi zum Stadtbild. Seit zehn Jahren lebt er in dem Schrebergarten, in einer kleinen Holzhütte. "Selbst gebaut", betont er. Ein Sofa steht darin, reichlich Gerümpel. Kein Bett, keine Heizung. Wie das im Winter funktioniere? "Wie im Sommer auch", antwortet er trocken. Kremer redet viel, von seinen Fahrrädern, dem Garten, seiner Hütte. Heinz Schuh wendet sich direkt an ihn, praktische Fragen, aber immer freundlich: "Kommt Ihre Rente noch? Ist das Dach noch dicht?" Und, schließlich: "Darf ich Ihnen vielleicht mal eine Wohnung zeigen?" Kremer schüttelt nur den Kopf und lächelt.

Ralf, früher Bergmechaniker bei den Saarbergwerken, trinkt seinen Kaffee, später gibt es in der Notschlafunterkunft kostenloses Mittagessen. Um drei Uhr am Nachmittag hat er einen Termin. Bei Heinz Schuh. Der wird Ralf dann von der Wohnung erzählen, die er ihm verschafft hat. Schon längst. Ralf hat das nur nicht mitbekommen. Hat es verpasst, so wie die Zwangsräumung seiner alten Wohnung. Weil er irgendwann einfach nicht mehr zu seinem Briefkasten gegangen ist. Wollte das Elend nicht mehr sehen. So hat er es ausgeblendet, aber die Hilfsversuche eben auch. Erst als dieser Zettel an seiner verschlossenen Tür hing, hat er davon erfahren. Von der Zwangsräumung. Und davon, dass er nicht alleine ist: Die Kontaktdaten vom Sozialamt standen auf dem Stück Papier. Nach dem langen Feiertagswochenende, am Montag, ist er gleich hin. Dann ging alles ganz schnell. Erst einmal in die Notschlafstelle. Und dann möglichst bald in die neue Wohnung.

Gegen halb zwölf, nach rund dreieinhalb Stunden, beenden Lillig und Schuh ihre Rundfahrt. Sie haben unter den Brücken niemanden getroffen, so wie meist. "Wenn wir jemanden finden, dann nur, weil derjenige das Hilfssystem noch nicht kennt", sagt Schuh. "Die anderen finden uns."

In der Notschlafstelle wirkt Ralf ein wenig aufgeregt. "Guten Morgen", sagt er zu Heinz Schuh. "Guten Morgen!", ruft auch Schuh. "Drei Uhr", betont Schuh nochmal und lächelt dabei. Ralf hat einen kleinen Zettel in der Hand, den er nicht mehr loslässt. Schuhs Büronummer steht darauf. Dort bekommt er seine neue Wohnung.

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