Nur noch Flüchtlingskrise in Berlin?

Eurokrise, Energiewende, Mindestlohn - war da was? Bewegende, große Themen scheinen im Zuge der riesigen Aufgaben und Ängste wegen der Flüchtlinge plötzlich in den Hintergrund gerückt. Wird überhaupt noch Politik gemacht in Deutschland, die mit dem Megathema auf den ersten Blick nichts zu tun hat?



Die Konzentration liegt auf der Bewältigung der Flüchtlingskrise, keine Frage. Es ist "eine Herausforderung, die Generationen beschäftigen wird", wie Bundespräsident Joachim Gauck bei der Jubiläumsfeier zur Deutschen Einheit sagte. Anders als damals solle nun aber zusammenwachsen, "was bisher nicht zusammen gehörte". Es geht eben nicht nur um Asylgesetze und Abschiebung, sondern um Bildung, Finanzen, Wohnungsbau, Arbeitsmarkt. Um Hoffnungen, Ängste - und darum, radikale Einstellungen gegen Flüchtlinge einzudämmen. Das bindet Kräfte auf allen Ebenen. Und doch: Der normale Politikbetrieb geht durchaus weiter - wenn auch unter geringerer Beachtung und in anderem Takt. Manches dauert etwas länger, wie etwa Neuregelungen gegen Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen, die jetzt auf den Weg kommen. Sozialministerin Andrea Nahles (SPD ) hatte mit der Jobmarktintegration der Flüchtlinge zunächst eine andere Priorität.

Auch andere Vorhaben laufen weiter. Das zeigt allein ein Blick auf die nächsten Sitzungstage des Bundestags kommende Woche. So gibt es am Freitag die Schlussdebatte über ein großes ethisches Thema: über die Sterbehilfe. Und auch am Donnerstag geht es um Leben und Tod - bei der dritten Lesung des Gesetzes zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung von Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU ). Zudem gibt es die dritte Lesung des Gesetzes zur Klinikreform - es sind gesundheitspolitische Schwergewichte, die in den vergangenen Wochen allerdings wenig Beachtung gefunden haben.

Weitere Gesetzesbeschlüsse sind geplant, zur freien Wahl von Routern etwa, eine Novelle des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb oder zur Neuorganisation der Zollverwaltung. "Man fragt sich, wo die ganzen Gesetzentwürfe plötzlich herkommen", sagt die Parlamentarische Geschäftsführerin der Linksfraktion, Petra Sitte . Ihr fällt auf: Viele auch eher unspektakuläre Gesetze würden mit Fristverkürzung durchs Parlament gepeitscht, also mit verkürzter Beratungszeit. "Das ist ein Indiz dafür, dass die Koalition in den letzten Wochen nicht dazu gekommen ist, sich damit zu beschäftigen. Wir prüfen genau, ob die Eile gerechtfertigt ist."

Die Grünen werfen Union und SPD noch etwas anderes vor. "Es gleiten Sachen unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit durch, die das Land sonst erheblich beschäftigt hätten", sagt ihre Parlamentarische Geschäftsführerin Britta Haßelmann. Sie führt etwa die Rückkehr zur umstrittenen Vorratsdatenspeicherung an, beschlossen Mitte Oktober - einen Tag nach dem Beschluss des Asylpakets mit der Verschärfung des Asylrechts, das dann noch durch die Länderkammer ging. "Die Koalition wusste, dass die Aufmerksamkeit an dem Tag auf dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz liegt", meint Haßelmann. Sie wirft der Regierung zudem vor, es vor der Ende November beginnenden Klimakonferenz in Paris komplett an Initiativen zum Klimaschutz fehlen zu lassen. Sitte moniert: "Große Probleme wie die Zunahme von prekärer Beschäftigung und Armut werden derzeit kaum von der Politik bearbeitet." Richtig durchdringen können Linke und Grüne derzeit mit ihren Themen jedenfalls nicht, wie man dort teilweise durchaus einräumt. Allerdings: Das war in Zeiten der großen Koalition auch schon vor der Flüchtlingskrise so.

Bei manchen Themen kam die Politik bisher schon nicht recht voran - etwa bei der Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Wie weit die Flüchtlingskrise die deutsche Politik aber verändert oder etwa Kanzlerin Angela Merkel (CDU ) im Amt gefährdet, ist längst nicht ausgemacht. "Spiegel Online" etwa kommentierte: "Es werden andere Themen kommen."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort