Nordkorea huldigt seinem „Gott“

Pjöngjang · Nordkorea feiert den 70. Gründungstag der herrschenden Arbeiterpartei wie erwartet mit einer riesigen Militärparade. Doch es ist auch der Geist der Veränderung zu spüren. Machthaber Kim experimentiert mit Reformen.

Die junge Frau reißt die Augen weit auf, so als wäre sie erschrocken. Es ist glühende Verehrung, die sie so intensiv packt, dass ihre Reaktion kaum von einem Schock unterscheidbar ist. Nur lange Übung ermöglicht es ihr, eine schwierige Kombination von Bewegungen exakt im Takt fortzusetzen, so wie es von ihr erwartet wird. Sie marschiert im Gleichschritt geradeaus, schaut dabei zur Seite und schwenkt zwei Puschel mit Plastikblumen. "Hoch lebe der Genosse Kim Jong Un", ruft Son Jung Mi aus voller Kehle, und ihre Stimme ist - wie sie selbst - in diesem Moment nur Teil eines viel größeren Körpers: der Masse, die ihrem Führer huldigt. Es ist eine besondere Ehre für Son, in der ersten Reihe marschieren zu dürfen.

Nach der Parade ist Son Jun Mi erschöpft, aber glücklich. "Der Jahrestag der Parteigründung ist eine große Freude für das ganze Volk", sagt die 25-Jährige. "Teilen Sie der Welt mit, welch ruhmreiches Glück der Genosse Kim Jong Un für uns bedeutet!" Ob sie glaubt, dass Kim sie in der Menge bemerkt hat? "Wichtig ist, dass die Volksmasse den Führer unterstützt!" Diese Sprüche bringt sie flüssig und ohne Nachdenken heraus.

Am Samstag hat Nordkorea in seiner Hauptstadt Pjöngjang den 70. Jahrestag der Gründung der Arbeiterpartei gefeiert, die das Land unangefochten regiert. Brennpunkt der Massenveranstaltungen war Machthaber Kim Jong Un. Auf dem zentralen Platz nahm Kim zunächst die größte Militärparade in der Geschichte des Landes ab. Dann betrachtete er den Massenaufmarsch, an dem Son Jung Mi teilnahm. Am Abend huldigten ihm über 100 000 Schüler, Studenten und Arbeiter mit einem Fackelumzug.

Nordkorea ist das Land der Massenaufmärsche. Doch Pjöngjang im Jahr 2015 überrascht auch durch einen vertrauten Anblick: Zwischen den geometrisch angeordneten Betonblöcken laufen junge Leute mit Smartphones herum. In den vergangenen drei Jahren ist die Stadt deutlich lebenswerter geworden. Pjöngjang hat jetzt Radwege, viel Grün durchzieht die Straßen. Insgesamt ist ein Geist der Veränderung zu spüren. Denn Machthaber Kim experimentiert mit Reformen - und hat damit in kurzer Zeit erstaunliche Kräfte freigesetzt.

Das Wirtschaftsprogramm begann auf dem Land: Im Frühjahr 2012 gab die Regierung ersten Bauernfamilien die Freiheit, einen Teil ihrer Ernte auf dem Markt anzubieten. Das war bereits eine radikale Neuerung: Vorher verteilten die Produktionsgenossenschaften den gesamten Ertrag über staatliche Kanäle. Im zweiten Schritt ist auch ein Markt für Konsumprodukte entstanden - von Klopapier über Seife bis zu Grills. Neben der Welt der volkseigenen Betriebe ist eine Schattenwirtschaft entstanden - offiziell zwar nicht gefördert, aber toleriert und ungemein produktiv.

Nordkorea ist plötzlich ein dynamischer Ort mit hohem Wirtschaftswachstum. Heute erbringt der Privatsektor - je nach Schätzung - zwischen 30 und 50 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes. Das Wachstum erreicht nach Schätzung des Hyundai-Forschungsinstituts in Seoul in diesem Jahr erstaunliche sieben Prozent, vorsichtigere Schätzungen erwarten immer noch drei Prozent. "Im Großen und Ganzen erfreuen sich die Nordkoreaner deutlich besserer Lebensverhältnisse als noch vor wenigen Jahren", sagt Paik Hak Soon vom Zentrum für Nordkoreastudien am Sejong Institute in Seoul.

Umso erstaunlicher scheint es, dass die Staatsmedien die eigentlich erfolgreichen Reformen kaum erwähnen. Nach außen erweckt das Regime den Anschein, es habe sich kaum etwas verändert. Der Regierung geht es dabei offenbar um den Anschein von Stabilität. Die Verehrung für die verstorbenen Staatsführer Kim Il Sung und Kim Jong Il ist so groß, dass der jüngere Kim sich noch nicht zu seinem Kurswechsel bekennen will. Dennoch rückte die Propaganda Kim Jong Un bei der Veranstaltung am Wochenende mehr in den Mittelpunkt als zuvor. Bei dieser Parade trug das Volk zwar immer noch Bildnisse der beiden älteren Kims vorbei. Doch Höhepunkt war jetzt zum ersten Mal eine riesige Heiligendarstellung des jungen Kim.

Erstmals hielt Kim Jong Un auch eine längere Rede. In über 20 Minuten legte er das Verhältnis der Partei zum Volk dar: Die Partei diene dem Volk, doch sie habe auch eine klare Führungsrolle und erwarte dafür Loyalität. Dafür verspricht Kim seinen Landsleuten Schutz "wie ein mütterlicher Körper". "Unsere Armee ist stark geworden", rief er aus. "Sie kann unser Land vor jeder denkbaren Bedrohung schützen. Wenn die Imperialisten aggressiv werden, stehen wir bereit, uns zu verteidigen."

Kim wollte bei dieser Gelegenheit auch demonstrieren, dass er mit seiner militaristischen Politik nicht isoliert dasteht. Mit ihm auf der Tribüne saß der Abgesandte Chinas, Liu Yunshan, ein Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei des Nachbarlandes. Kim bezog Liu betont auffällig mit ein und forderte ihn beispielsweise auf, mit ihm zusammen die Fäuste zum Gruß an das Volk zu recken. Als Gast konnte Liu ihm das nicht abschlagen, doch war ihm ein gewisser Unwille anzumerken.

Der Auftritt Lius markiert eher das Minimum chinesischer Beteiligung am Jubeltag des Partnerlandes. China ist derzeit mit Kim unzufrieden: Der junge Diktator lässt das Kernwaffenprogramm konsequent vorantreiben, während Peking keine neue Atommacht in der Region wünscht. Kim setzt hier eine klare Priorität: Er verfolgt eine Politik der Stärke. Würde er abrüsten, könnte er zwar die Aufhebung von Sanktionen und Auslandsinvestitionen erwarten, die der Wirtschaft einen gewaltigen Schub geben würden. Kim will sich jedoch stattdessen durch nukleare Abschreckung unangreifbar machen.

Das Volk erwartet von ihm durchaus eine Politik der Stärke - so zumindest suggeriert es die Propaganda . Als Kim von seiner Tribüne aus von "Unbesiegbarkeit" spricht, jubelt ihm die Masse zu. Während seiner Rede stehen Zehntausende stramm, die Gesichter voller Verehrung auf diesen einen Punkt gerichtet, ihr Idol, ihren Gott.

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