Neue Massenflucht aus Afghanistan

Kabul · Nach dem Sturz des Taliban-Regimes kehrten viele Flüchtlinge zurück nach Afghanistan. Jetzt hat wieder eine Massenflucht aus dem Land eingesetzt. Nur noch aus Syrien kommen mehr Flüchtlinge in die EU.

Schon vor der Morgendämmerung bildet sich am Passamt in der afghanischen Hauptstadt Kabul eine lange Schlange. Im Frühjahr hätten in der Behörde täglich rund 1000 Afghanen einen Reisepass beantragt, sagt der Passbeamte Abed Halim. Inzwischen seien es jeden Tag etwa 5000 Antragsteller. Die dramatische Steigerung ist ein Indiz dafür, wie viele Menschen vor der Gewalt und der wirtschaftlichen Misere in Afghanistan fliehen wollen. Nach Syrern bilden Afghanen inzwischen die größte Gruppe von Flüchtlingen, die in die EU kommen. Im zweiten Quartal dieses Jahres stellten nach Angaben der EU-Statistikbehörde Eurostat 27 000 Afghanen in einem EU-Land einen Erstantrag auf Asyl .

"Die meisten Menschen wollen nach Deutschland, weil Angela Merkel angekündigt hat, dass Deutschland die Flüchtlinge aufnimmt", sagt Arif. Er hat ein Reisebüro, das Dienste rund um Pass- und Visaanträge anbietet. "Wir wissen, dass es Probleme in Europa gibt und dass viele Menschen Flüchtlinge hassen. Aber es ist immer noch Europa, wo man viele Möglichkeiten hat." 14 Jahre nach dem Sturz des radikalislamischen Taliban-Regimes ist die erneute Massenflucht der Afghanen auch ein Armutszeugnis für die internationale Gemeinschaft, der es nicht gelungen ist, das Land zu stabilisieren. "Viele Menschen, die damals zurückkamen, haben Afghanistan wieder verlassen", sagt der Landesdirektor der Internationalen Organisation für Migration, Richard Danziger.

Jeder in Kabul kennt irgendwen, der sich kürzlich in Richtung Europa aufgemacht hat. Die deutsche Botschaft in Kabul versucht, Afghanen von der Flucht abzubringen. "Letztes Jahr wurden weniger als ein Drittel aller Bewerbungen um Asyl in Deutschland angenommen", warnt die Vertretung. Ex-Präsident Hamid Karsai appellierte an seine Landsleute: "Gebt nicht 10 000 Dollar aus, um nach Europa zu gelangen, ohne zu wissen, wie eure Zukunft aussieht, ob ihr auf dem Weg ertrinkt, sterbt oder zurückgewiesen werdet." Bei vielen verfangen solche Appelle nicht mehr, sie haben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in der Heimat aufgegeben.

"Menschen verkaufen ihren Besitz und ihre Häuser, um zu fliehen", sagt Mohammad Amin Khosti, Vorstandsmitglied der Industrie- und Handelskammer in Kabul . Am Passamt wirbt ein Schleuser per Aushang damit, Visa für die Türkei, den Iran und für Deutschland besorgen zu können. Für die Bundesrepublik könne er innerhalb von 30 bis 35 Tagen eine Einreiseerlaubnis beschaffen, die nicht gefälscht sei, sagt er am Telefon. Der Preis dafür liege bei 22 400 Euro.

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