Mit Augensport zurück ins Leben

Janine Z. hat Herzklopfen. Laut und unangenehm pocht es, im Hals, in den Schläfen. Menschen hasten an ihr vorbei, laufen viel schneller, als sie es sich traut. Die Bahnhofshalle in Saarbrücken ist voll und laut. Ein Quietschen oben am Gleis, eine blecherne Durchsage. Dann ein Schlag an der linken Schulter. Janine Z. wirbelt herum. Ein junger Mann starrt sie irritiert an. "Kannst du nicht aufpassen?", sagt sein Blick. Sie muss mit ihm zusammengestoßen sein. Gesehen hat sie ihn nicht. Die 23-Jährige schluckt, ihr Mund ist trocken. Draußen verläuft sich die Menge. Zum Glück. Jetzt über die Straße. Zaghaft setzt sie einen Fuß auf die Fahrbahn. Hupend rauscht ein Taxi an ihr vorbei. Wo kam das her? Janine Z. will am liebsten gleich wieder umdrehen und in den Zug nach Hause steigen. Bahnhöfe, Einkaufszentren, Fußgängerzonen - zwei Jahre lang waren Orte mit vielen Menschen für Janine Z. der Horror. Oft wollte sie gar nicht vor die Tür. Im Oktober 2012 erleidet die junge Frau aus Namborn eine Hirnblutung. Erst Wochen, nachdem sie aus dem Koma erwacht ist, wird ihr klar, dass etwas nicht stimmt. Sie stößt sich dauernd oder rempelt Menschen an. Die Orientierung fällt schwer. Nach und nach realisiert sie: Auf ihrer linken Seite nimmt sie Dinge nicht wahr. Es ist, als ob jemand das Bild, das ihre Augen sehen, in der Mitte durchgeschnitten und die Hälfte weggenommen hätte. "Ich hatte oft Kopfschmerzen, konnte mich schlecht konzentrieren und schon nach einem halben Tag war ich völlig erschöpft." Mediziner sprechen hier von einer Halbseitenblindheit. Sehstörungen wie diese treten häufig auf bei Patienten mit Hirnschädigungen nach einem Schlaganfall, einem Hirntumor oder einer Hirnblutung. Oft sind sie nicht heilbar. Neben Gesichtsfeldausfällen kann es zu Doppelbildern oder verschwommenem Sehen kommen. Manche Patienten vergessen quasi komplett, dass eine Körperhälfte existiert. "Die Patienten sind dadurch sehr stark eingeschränkt, können viele Dinge nicht mehr tun, die zuvor ganz selbstverständlich waren. Arbeiten, Autofahren, Sport treiben. Das ist auch eine psychische Belastung. Viele fühlen sich dadurch weniger wert", sagt Professor Georg Kerkhoff. Er ist Leiter der Neuropsychologischen Ambulanz an der Universität in Saarbrücken. Dort finden Patienten wie Janine Z. Hilfe. "Spezielle Therapieverfahren sollen ihnen helfen, im Alltag mit der Beeinträchtigung klarzukommen, und ihr Gefühl von Sicherheit und Selbständigkeit stärken", erklärt Kerkhoff. Mit einem lang gezogenen Piep-Ton setzt sich das Laufband in Bewegung. Das Tempo ist gemächlich. Vorsichtig setzt Janine Z. einen Fuß vor den anderen. Die linke Hand wandert immer wieder zum Haltegriff, die andere hält einen Laserpointer. Der rote Lichtpunkt ruht auf einem Kreuz rechts auf einer Leinwand. Doch Janine Z.'s Blick huscht hin und her. Die Augäpfel wenden sich nach links und nach rechts. Wieder und wieder. Dann blinkt links auf der Leinwand ein gelber Punkt. Die 23-Jährige findet ihn schnell und richtet zielgenau den Laserpointer darauf. Das sogenannte Sakkadentraining - Sakkaden sind große, rasche Bewegungen mit den Augen - ist eine von vielen Übungen, die den Gesichtsfeldausfall kompensieren sollen. Es erweitert den Wahrnehmungsbereich und erleichtert zum Beispiel das Lesen oder die Orientierung im Straßenverkehr. "Wir wollen, dass unsere Patienten aktiv am Leben teilhaben können", sagt Professor Kerkhoff, der seit Jahrzehnten in der Neuropsychologie mit Schwerpunkt Wahrnehmungsstörungen praktiziert und forscht. "Wir wollen, dass sie arbeiten gehen können, ins Kino oder einkaufen. Dass sie ohne Probleme ein Smartphone bedienen und einen Busfahrplan lesen können." Wie wichtig all das ist, kann Jürgen R. nur bestätigen. Vor zwei Jahren hatte er eine Hirnstammblutung. Dabei wurde ein Bereich im Gehirn geschädigt, der für Augenbewegungen zuständig ist. Die Folge ist eine Augenmuskellähmung, das linke Auge schielt nach außen. Der Winkel ist anfangs so groß, dass Jürgen R.'s Gehirn die zwei Bilder, die seine Augen sehen, nicht mehr automatisch zu einem verbinden kann. Man spricht dabei von einer Fusionsstörung. Der 61-Jährige sieht doppelt. "Das macht einen verrückt, es ist kein Leben", sagt der sportbegeisterte Noswendeler. Die Erkrankung, die ihn so unerwartet traf, hat ihn verletzlicher und vorsichtiger gemacht. "Man merkt, dass man nicht mehr so unbefangen ist", sagt Jürgen R. Die Doppelbilder machten das täglich schmerzlich bewusst. Eine spezielle Brille verschafft Erleichterung. Eine Prismenfolie gleicht den Schielwinkel aus und ermöglicht die Fusion. In der neuropsychologischen Therapie trainiert Jürgen R. seine Augen, damit sie wieder parallel stehen und die Fusion alleine schaffen. Jürgen R.'s Miene ist entschlossen und konzentriert. Die Augenbrauen sind zusammengezogen, dazwischen bilden sich Falten. Seine Nase hat er an einen langen schwarzen Stab gelegt. Sein Blick gleitet daran entlang, richtet sich durch eine schmale, längliche Öffnung in einer Blende auf ein Bild von zwei gleichen Papageien. Sein linker Augapfel zuckt, dann stabilisiert er sich in der Mitte. "Wie viele Papageien sehen Sie?", fragt Psychologin Anna Katharina Schaadt. "Einen", sagt Jürgen R. "Es klappt!" Seine Stimme klingt aufgeregt. Dann zuckt der Augapfel wieder. "Gönnen sie sich eine Pause, übertreiben Sie es nicht", rät die Therapeutin. Das Training ist wie Sport für die Augen. Es ist meist sehr anstrengend und ermüdend und erfordert viel Geduld. "Manchmal hat man nach der Therapiestunde richtigen Muskelkater", sagt Janine Z. Doch die Muskeln gewöhnen sich an die Beanspruchung. Nach und nach wird der Erfolg greifbar. Bei Jürgen R. hat sich der Schielwinkel auf ein Drittel reduziert. Er spielt wieder Tennis und fährt Ski, "vor der Therapie undenkbar". Die Fortschritte, die er macht, lassen ihn optimistisch nach vorne schauen. Für Janine Z. ist die neuropsychologische Therapie "das Beste, was mir passieren konnte". Sie hat ihr ein Gefühl von Normalität zurückgegeben. Nach sechs Monaten Training sucht sie wieder von sich aus Alltagssituationen anstatt sie zu meiden. Beruflich will die 23-Jährige, die im Januar ihre Ausbildung zur Industriekauffrau beendet hat, jetzt voll durchstarten.

 Konzentriert und entschlossen: Jürgen R. kämpft beim Fusionstraining gegen das Schielen seines linken Auges an – mit Erfolg. Fotos: Oliver Dietze

Konzentriert und entschlossen: Jürgen R. kämpft beim Fusionstraining gegen das Schielen seines linken Auges an – mit Erfolg. Fotos: Oliver Dietze

Janine Z. hat Herzklopfen. Laut und unangenehm pocht es, im Hals, in den Schläfen. Menschen hasten an ihr vorbei, laufen viel schneller, als sie es sich traut. Die Bahnhofshalle in Saarbrücken ist voll und laut. Ein Quietschen oben am Gleis, eine blecherne Durchsage. Dann ein Schlag an der linken Schulter. Janine Z. wirbelt herum. Ein junger Mann starrt sie irritiert an. "Kannst du nicht aufpassen?", sagt sein Blick. Sie muss mit ihm zusammengestoßen sein. Gesehen hat sie ihn nicht. Die 23-Jährige schluckt, ihr Mund ist trocken. Draußen verläuft sich die Menge. Zum Glück. Jetzt über die Straße. Zaghaft setzt sie einen Fuß auf die Fahrbahn. Hupend rauscht ein Taxi an ihr vorbei. Wo kam das her? Janine Z. will am liebsten gleich wieder umdrehen und in den Zug nach Hause steigen.

Bahnhöfe, Einkaufszentren, Fußgängerzonen - zwei Jahre lang waren Orte mit vielen Menschen für Janine Z. der Horror. Oft wollte sie gar nicht vor die Tür. Im Oktober 2012 erleidet die junge Frau aus Namborn eine Hirnblutung. Erst Wochen, nachdem sie aus dem Koma erwacht ist, wird ihr klar, dass etwas nicht stimmt. Sie stößt sich dauernd oder rempelt Menschen an. Die Orientierung fällt schwer. Nach und nach realisiert sie: Auf ihrer linken Seite nimmt sie Dinge nicht wahr. Es ist, als ob jemand das Bild, das ihre Augen sehen, in der Mitte durchgeschnitten und die Hälfte weggenommen hätte. "Ich hatte oft Kopfschmerzen, konnte mich schlecht konzentrieren und schon nach einem halben Tag war ich völlig erschöpft."

Mediziner sprechen hier von einer Halbseitenblindheit. Sehstörungen wie diese treten häufig auf bei Patienten mit Hirnschädigungen nach einem Schlaganfall, einem Hirntumor oder einer Hirnblutung. Oft sind sie nicht heilbar. Neben Gesichtsfeldausfällen kann es zu Doppelbildern oder verschwommenem Sehen kommen. Manche Patienten vergessen quasi komplett, dass eine Körperhälfte existiert. "Die Patienten sind dadurch sehr stark eingeschränkt, können viele Dinge nicht mehr tun, die zuvor ganz selbstverständlich waren. Arbeiten, Autofahren, Sport treiben. Das ist auch eine psychische Belastung. Viele fühlen sich dadurch weniger wert", sagt Professor Georg Kerkhoff. Er ist Leiter der Neuropsychologischen Ambulanz an der Universität in Saarbrücken. Dort finden Patienten wie Janine Z. Hilfe. "Spezielle Therapieverfahren sollen ihnen helfen, im Alltag mit der Beeinträchtigung klarzukommen, und ihr Gefühl von Sicherheit und Selbständigkeit stärken", erklärt Kerkhoff.

Mit einem lang gezogenen Piep-Ton setzt sich das Laufband in Bewegung. Das Tempo ist gemächlich. Vorsichtig setzt Janine Z. einen Fuß vor den anderen. Die linke Hand wandert immer wieder zum Haltegriff, die andere hält einen Laserpointer. Der rote Lichtpunkt ruht auf einem Kreuz rechts auf einer Leinwand. Doch Janine Z.'s Blick huscht hin und her. Die Augäpfel wenden sich nach links und nach rechts. Wieder und wieder. Dann blinkt links auf der Leinwand ein gelber Punkt. Die 23-Jährige findet ihn schnell und richtet zielgenau den Laserpointer darauf.

Das sogenannte Sakkadentraining - Sakkaden sind große, rasche Bewegungen mit den Augen - ist eine von vielen Übungen, die den Gesichtsfeldausfall kompensieren sollen. Es erweitert den Wahrnehmungsbereich und erleichtert zum Beispiel das Lesen oder die Orientierung im Straßenverkehr. "Wir wollen, dass unsere Patienten aktiv am Leben teilhaben können", sagt Professor Kerkhoff, der seit Jahrzehnten in der Neuropsychologie mit Schwerpunkt Wahrnehmungsstörungen praktiziert und forscht. "Wir wollen, dass sie arbeiten gehen können, ins Kino oder einkaufen. Dass sie ohne Probleme ein Smartphone bedienen und einen Busfahrplan lesen können."

Wie wichtig all das ist, kann Jürgen R. nur bestätigen. Vor zwei Jahren hatte er eine Hirnstammblutung. Dabei wurde ein Bereich im Gehirn geschädigt, der für Augenbewegungen zuständig ist. Die Folge ist eine Augenmuskellähmung, das linke Auge schielt nach außen. Der Winkel ist anfangs so groß, dass Jürgen R.'s Gehirn die zwei Bilder, die seine Augen sehen, nicht mehr automatisch zu einem verbinden kann. Man spricht dabei von einer Fusionsstörung. Der 61-Jährige sieht doppelt. "Das macht einen verrückt, es ist kein Leben", sagt der sportbegeisterte Noswendeler. Die Erkrankung, die ihn so unerwartet traf, hat ihn verletzlicher und vorsichtiger gemacht. "Man merkt, dass man nicht mehr so unbefangen ist", sagt Jürgen R. Die Doppelbilder machten das täglich schmerzlich bewusst. Eine spezielle Brille verschafft Erleichterung. Eine Prismenfolie gleicht den Schielwinkel aus und ermöglicht die Fusion. In der neuropsychologischen Therapie trainiert Jürgen R. seine Augen, damit sie wieder parallel stehen und die Fusion alleine schaffen.

Jürgen R.'s Miene ist entschlossen und konzentriert. Die Augenbrauen sind zusammengezogen, dazwischen bilden sich Falten. Seine Nase hat er an einen langen schwarzen Stab gelegt. Sein Blick gleitet daran entlang, richtet sich durch eine schmale, längliche Öffnung in einer Blende auf ein Bild von zwei gleichen Papageien. Sein linker Augapfel zuckt, dann stabilisiert er sich in der Mitte. "Wie viele Papageien sehen Sie?", fragt Psychologin Anna Katharina Schaadt. "Einen", sagt Jürgen R. "Es klappt!" Seine Stimme klingt aufgeregt. Dann zuckt der Augapfel wieder. "Gönnen sie sich eine Pause, übertreiben Sie es nicht", rät die Therapeutin.

Das Training ist wie Sport für die Augen. Es ist meist sehr anstrengend und ermüdend und erfordert viel Geduld. "Manchmal hat man nach der Therapiestunde richtigen Muskelkater", sagt Janine Z. Doch die Muskeln gewöhnen sich an die Beanspruchung. Nach und nach wird der Erfolg greifbar. Bei Jürgen R. hat sich der Schielwinkel auf ein Drittel reduziert. Er spielt wieder Tennis und fährt Ski, "vor der Therapie undenkbar". Die Fortschritte, die er macht, lassen ihn optimistisch nach vorne schauen. Für Janine Z. ist die neuropsychologische Therapie "das Beste, was mir passieren konnte". Sie hat ihr ein Gefühl von Normalität zurückgegeben. Nach sechs Monaten Training sucht sie wieder von sich aus Alltagssituationen anstatt sie zu meiden. Beruflich will die 23-Jährige, die im Januar ihre Ausbildung zur Industriekauffrau beendet hat, jetzt voll durchstarten.

 Janine Z. blickt durch ein Prismenglas. Es verändert die Blickrichtung und wird zum Training der Augenmuskulatur eingesetzt.

Janine Z. blickt durch ein Prismenglas. Es verändert die Blickrichtung und wird zum Training der Augenmuskulatur eingesetzt.

Zum Thema:

HintergrundSeit 2013 ist die neuropsychologische Therapie im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen. Dadurch kann die Ambulanz an der Saar-Uni deutlich mehr Patienten betreuen - anstatt 50 nun bis zu 500 im Jahr. In der Regel können 60 Therapieeinheiten durchgeführt werden.In einem Vortrag erklärt Professor Georg Kerkhoff, Leiter der Neuropsychologischen Ambulanz , am Dienstag die Behandlung von Wahrnehmungsstörungen nach einer Hirnschädigung . Er beginnt um 18 Uhr in der Aula auf dem Saarbrücker Campus, Gebäude A3.3. mast

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