Merkels Schröder-Moment

Wie es der Zufall so will, trifft Angela Merkel jetzt auf ihren Vorgänger. Morgen stellt sie eine Biografie über Gerhard Schröder vor. Sie hat es so gewollt. Auch wenn ihr der Termin wertvolle Zeit auffressen wird, um in der Flüchtlingskrise den Überblick zu behalten.Vielleicht schärft das Tête-à-Tête, zehn Jahre nach der legendären Elefantenrunde am Wahlabend mit einem auf Krawall gebürsteten Schröder, Merkels Sinne.

Schröder setzte mit der Agenda 2010 alles auf eine Karte. Um die Kritiker und seine SPD kümmerte er sich zu wenig. Mit ein Grund dafür, warum Merkel ihn 2005 aus dem Amt vertreiben konnte. Schröders Erfolg bleibt. Die Agenda ist sein Vermächtnis. Ohne sie wäre Deutschland heute kaum so stark, um Hunderttausende Flüchtlinge zu versorgen. Kann die Krise für Merkel zum Schröder-Moment werden?

Am Samstagmorgen um 9.55 Uhr verschickt das Bundespresseamt eine Mitteilung. "Merkel: Agenda 2030 ist ein großartiger Schritt." Hilfe. Hat man was verpasst? Nein. Nach der Plauderstunde mit Schröder am Dienstag, dem EU-Sondergipfel am Mittwoch in Brüssel und dem Bund-Länder-Milliardenpoker am Donnerstag fliegt Merkel nach New York. Dort berät die Weltgemeinschaft über die Entwicklungspolitik. Eben eine Agenda 2030.

Für Merkel wird es eine wichtige Woche. Schaffen es die Staats- und Regierungschefs beim Gipfel nicht, dem zerstrittenen Europa einen Anstrich ehrlich gemeinter Humanität zu geben, könnte viel kaputtgehen. So könnten "Hotspots" an den Außengrenzen beschlossen werden, dazu ein Scheck über sieben Milliarden Euro, wie EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD ) sagt. Damit sollen Länder wie die Türkei, Jordanien und der Libanon unterstützt werden, die Millionen Flüchtlinge beherbergen. Will sich Europa freikaufen?

Anders als in der Griechenland-Krise - die in Kürze wegen des Neuwahl-Reformstaus in Athen und der unklaren Rolle des Weltwährungsfonds wieder aufflammen dürfte - wird Merkels Führungsanspruch jetzt offen angezweifelt. Nicht nur in Osteuropa. Die Achse Berlin-Paris knirscht. Merkels Alleingänge - Ungarn-Flüchtlinge rein, zehn Tage später Schlagbäume runter - werden im Élysée-Palast nicht goutiert. Dort wird nun befürchtet, dass Merkels weiche Seite zum Konjunkturprogramm für den rechten Front National von Marine Le Pen werden könnte.

In der SPD , wo der Schutz des Asylrechts oberste Priorität hat, haben sie auch keinen Masterplan. Die Genossen nehmen stärker den Innenminister ins Visier. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann , der gerne de Maizières Posten übernommen hätte, schwingt sich zu einem Schatten-Innenminister auf. Geradezu verblüfft nimmt man im Willy-Brandt-Haus zur Kenntnis, dass die als unbezwingbar geltende Merkel derzeit auch nur mit Wasser kocht. Und die CSU alles dafür tut, dass die Republik das erfährt.

Das verunsichert gerade die Union. Weiß Merkel, was sie tut? Ihr Lordsiegelbewahrer Volker Kauder , dem bei der letzten Griechenland-Abstimmung über 60 Abgeordnete nicht gefolgt waren, weist zurück, der Laden könnte Merkels Parole vom "Wir schaffen das" unterlaufen. "Grottenfalsch" seien Berichte, er selbst gehe da nicht mit, schickt der Unionsfraktionschef aus New York über den Atlantik. In den USA werde Deutschland als moralische Welt-Instanz gefeiert: "Wir werden hier hoch gelobt, das ist einem fast schon peinlich." Das ist das freundliche Gesicht, das es ohne Merkels humanitäre Geste nicht gegeben hätte. Abgesehen von ihrer Replik auf CSU-Chef Horst Seehofer ("... dann ist das nicht mein Land"), die beinahe an Schröders Basta-Qualitäten heranreichte, weiß Merkel, dass es bei der Unterbringung der Flüchtlinge zwischen Bund, Ländern und Kommunen gewaltig hakt.

Am Donnerstag wird Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU ) ein paar Milliarden mehr herausrücken müssen. Dass er im Gegenzug 2016 bis zu 2,5 Milliarden im Haushalt sparen will, erzürnt die SPD . Flüchtlinge gegen Bürger auszuspielen, sei brandgefährlich.

Kann die Flüchtlingskrise Merkel aus dem Amt kegeln, wie einst die Agenda Schröder? Der Parteienforscher Karl-Rudolf Korte glaubt das nicht. Er verweist auf ihre DDR-Biografie: "Sie ist eine Freiheitspatriotin, die erfahren hat, dass Grenzen überwindbar sind und dass das Vorteile mit sich bringt." Die CDU-Chefin habe es nach der Atomkatastrophe in Fukushima vorgemacht, wie sie die Republik nach einem externen Schock neu auszurichten vermag. Der Vergleich hinkt. Integration ist kein Ökostrom. Hunderttausenden Flüchtlingen meist muslimischen Glaubens auf Augenhöhe Arbeit und eine neue Heimat zu geben, wird für Merkel eine größere Hausnummer.

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