Merkel und die Wohlfühl-Insel

Berlin · Mit einer selten deutlichen Neujahrsansprache hat die Kanzlerin die Debatte über die „Pegida“-Proteste neu entfacht. Außerdem appellierte sie an das Wir-Gefühl der Deutschen.

Zusammenhalt, Zusammenhalt, Zusammenhalt - kein Wort taucht in der Neujahrsansprache von Kanzlerin Angela Merkel (CDU ) so häufig auf wie dieser Begriff, der in Zeiten der digitalen Vereinzelung ein wenig unmodern klingt. Merkel beschwört das, was man neudeutsch als "Wir-Gefühl" bezeichnet - die Teamfähigkeit, die sie als Erfolgsrezept und Grundtugend der Deutschen anpreist. Und damit auch wirklich jeder versteht, was gemeint ist, verweist sie noch einmal auf die erfolgreiche Fußball-WM.

Warum glaubt die Kanzlerin, dass sie ihre Landsleute jetzt wachrütteln und zu mehr Zusammenhalt auffordern muss? Schließlich läuft doch, wie sie selbst sagt, im Prinzip alles hervorragend im Friedens- und Wohlstands-Deutschland: keine neuen Schulden, die Arbeitslosigkeit sinkt. Merkel tut es, weil sie Deutschland als Wohlfühl-Insel sieht, deren Existenz bedroht ist, wenn die Insulaner kollektiv die Köpfe in den Sand stecken, statt sich den aktuellen Krisen und Herausforderungen zu stellen. Die Kanzlerin zählt auf: Ebola, der Terror des IS und russische Bestrebungen, in Europa das Recht des Stärkeren über das Völkerrecht zu stellen. Merkel spricht den Namen Putin zwar nicht aus und schafft es auch, die Anti-Islam-Demonstrationen in Dresden zu erwähnen, ohne dabei das Wort "Pegida" in den Mund zu nehmen. Doch immerhin benennt sie viele Probleme mit einer Klarheit, die für sie sonst eher nicht charakteristisch ist.

Was für Merkel und ihre Partei unangenehm war 2014, hat in der Momentaufnahme zum Jahreswechsel keinen Platz: die Folgen der Edathy-Affäre zum Beispiel oder der Erfolg der AfD. Die Partei gab sich gestern alle Mühe, den Lobesreigen auf Merkel zu stören, den ihre ungewohnt knackige Ansprache ausgelöst hat. Parteichef Bernd Lucke sagte, eine Neujahrsansprache solle versöhnen und nicht spalten. Er kritisierte vor allem ihre Äußerungen zu Pegida: "Frau Merkel stempelt die Menschen als fremdenfeindlich ab, ohne ihnen Gehör schenken zu wollen." Die meisten anderen sehen das anders. Selbst die Opposition kam nicht umhin, Merkel für ihre klaren Worte zu loben. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt findet aber, die Kanzlerin sollte öfter mal Klartext reden - nicht nur an Feiertagen.

Meinung:

Klare Ansage

Von SZ-KorrespondentWerner Kolhoff

Das hat gesessen. Die Reaktionen auf Merkels Neujahrsansprache zeigen, dass die Kanzlerin die richtigen Worte gefunden und die Richtigen angesprochen hat. Vor allem die AfD bellt zurück wie ein getroffener Hund. Zwar wird Merkels Appell, den "Pegida"-Aufrufen nicht zu folgen, bei denen, die das jeden Montag in Dresden schon tun, kaum verfangen. Aber er wird vielleicht weitere Teilnehmer abhalten. Die Ansprache war außerdem eine klare Ansage an jene in der Union, die damit liebäugeln, den durch die Moderne überforderten Bevölkerungskreisen ein wenig entgegenzukommen wie zuletzt Ex-Innenminister Friedrich. Oder ein bisschen mit der AfD zu kooperieren. Für die CDU-Chefin gibt es kein Wackeln nach Rechts. "Auch im kommenden Jahr sollten wir gemeinsam alles daran setzen, den Zusammenhalt unseres Landes zu stärken. Er macht unsere Gesellschaft menschlich und erfolgreich." Dem ist nichts hinzuzufügen.