„Mein Kopf war auf Essen getrimmt“

Rubenheim · Wenn alle Diäten versagen, wenn das Leben durch Diabetes und Herz-Kreislaufprobleme in großer Gefahr ist, dann bleibt vielen Übergewichtigen nur eine Magenverkleinerung. SPD-Chef Sigmar Gabriel unterzog sich erst kürzlich einer solchen Operation. Auch die 50-jährige Saarländerin As trid Franz überwand so ihr Schwergewicht.

 Ein Salat mit etwas Käse und Fleisch: So sehen die Essensportionen von Astrid Franz – hier in ihrer Küche – heute aus. Foto: Rich Serra

Ein Salat mit etwas Käse und Fleisch: So sehen die Essensportionen von Astrid Franz – hier in ihrer Küche – heute aus. Foto: Rich Serra

Foto: Rich Serra

Der Albtraum vieler Frauen ruft bei ihr Glücksgefühle hervor: Falten. "Es werden täglich mehr", haucht Astrid Franz freudig mit vorgerecktem Kopf und betastet ihren Hals, ihr Gesicht. "Und wenn jemand meint: Du hast doch gar keine, sage ich: Oh doch, ich kann sie sehen und fühlen." Anders als viele Geschlechtsgenossinnen, die schon kleine Runzeln als Schönheitsverfall begreifen, sind sie für Franz augenfälliger Erfolg auf dem Weg zu mehr Attraktivität und Lebensqualität . Vor den Falten stand eine Magen-Operation im Mai vergangenen Jahres - vorläufiges Finale in einem zermürbenden Kampf gegen die Fettsucht.

Übergewichtig war die Rubenheimerin schon, seit sie denken kann: Aus einer Familie mit Landwirtschaft kommend, hat sie die Demütigungen und Hänseleien zu Realschulzeiten noch lebhaft vor Augen: "Arschtritt" schimpfte man sie in Verballhornung ihres Vornamens. Freunde hat das korpulente Mädchen kaum, geschweige denn einen festen Freund. Dafür wird sie umso mehr gemobbt. Auf dem Schulhof etwa fesseln Mitschüler sie in der Pause mit Handschellen an eine Mülltonne - und machen sich lachend aus dem Staub. "Und was tat ich damals? Ich klemmte mir die Mülltonne unter den Arm und ging damit in die Chemiestunde", sagt Franz, fast ein wenig triumphierend. Ja, patent und stark und selbstbewusst wirkt sie. Damals wie heute? Keineswegs, erzählt sie. Denn während mit den Jahren der (Schutz-)Panzer um sie herum Kilo für Kilo anschwillt, wird sie innerlich immer dünnhäutiger, ihre Seele zerbrechlicher. Immerhin: Sie besucht die Tanzstunde und hat auch einen Tanzpartner. Und sie geht aus. Was nicht verhindert, dass Essen zum allumfassenden Lebensthema wird - auch weil Astrids Umfeld unaufhörlich auf sie reagiert. Und weil ihr Frust darüber den Appetit nur anheizt. Ein Teufelskreis. Mit 14 Jahren schicken sie die Eltern auf Anraten eines Arztes erstmals zur Kur nach Bad Kissingen. Vergeblich, sie legt schnell wieder zu. "Wenn der Kopf nicht will, kann das nicht funktionieren. Und mein Kopf war auf Essen getrimmt", sagt Franz, die seit 27 Jahren verheiratet ist. Ihren Mann Günter lernt sie in einer Gaststätte kennen, in der sie als ausgebildete Restaurantfachfrau einmal aushilft. Er verspricht, sie am nächsten Abend zum Essen abzuholen. Astrid hat große Zweifel, dass er Wort halten wird. "Aber am nächsten Abend stand er pünktlich vor der Tür", sagt sie lächelnd. "Und ungefähr ein Jahr später waren wir verheiratet."

Wegen ihres Gewichts, so erinnert sich Astrid Franz, verliert sie später sogar ihren Job bei Bosch. Mit ihrer Arbeit sei man zufrieden, habe man ihr gesagt. Den befristeten Vertrag aber habe man nur in eine Festanstellung verwandeln wollen, wenn sie 20 Kilo abgenommen hätte, sagt sie. "Dabei kam man mir auch hinsichtlich der Arbeitszeiten nicht so weit entgegen, dass ich das etwa bei den Weight Watchers hätte angehen können."

Mit der Heirat wird auch für Ehemann Günter das Thema Essen ein lebensbestimmendes, ein unentrinnbares. Wenn As trid unstillbarer Hunger überkommt, fährt er selbst nachts mit ihr zu McDonalds. Alles der Liebe wegen? Ja, meint er, aber auch des lieben Friedens willen, um unerträgliche Launen abzuwenden. Die körperliche Bürde wird zur psychischen, nicht nur für Astrid selbst, sondern auch für ihren Mann und ihre beiden Kinder Nikolas und Katharina (heute 24 und 19). Und die psychische Last verschärft sich mit den Abmagerungskuren, die As trid lediglich Jojo-Effekte bescheren, begleitet von lebensgefährlichem Bluthochdruck und Diabetes . Daran können auch zwei Klinikaufenthalte mit psychosomatischer Behandlung nichts ändern.

Mit dem Gewicht wächst auch Astrids Abhängigkeit von anderen: Strümpfe anziehen kann sie nicht mehr selbstständig, geschweige denn Schuhe binden. Kleidung kommt per Katalogbestellung, denn Shopping ist ihr längst zu strapaziös, ganz davon abgesehen findet sie selten etwas in ihrer Größe. Auch ihre Hausarbeit kann sie kaum noch verrichten: "Delegieren musste ich vieles - an meine Kinder und meinen Mann", sagt sie.

Tiefe Traurigkeit umfängt sie und wird ein steter Begleiter. Auch weil Unternehmungen mit der Familie wie Schwimmen oder Wandern für Astrid nicht in Frage kommen. "Wann immer ich das Haus verließ, stand die Überlegung im Vordergrund, ob das Auto in der Nähe geparkt werden kann und ob es da etwas zu essen gibt." Große Magenprobleme zwingen sie schließlich zum Arzt, dessen knallharte Diagnose - wenige Monate vor ihrem 50. Geburtstag - die entscheidende Wende bringt: "Mit diesem Gewicht werden Sie keine 60", eröffnet er ihr. Wie hoch ihr Gewicht zu diesem Zeitpunkt tatsächlich ist, weiß sie nicht: "Die Balkenwaage, auf der ich gewogen wurde, ging bis 150 Kilo und war am Anschlag. Es wird also etwas darüber gewesen sein." Im Saarbrücker Klinikum auf dem Winterberg unterzieht sie sich einige Monate später einer Schlauchmagen-Operation, bei der ein Großteil des Organs entfernt wird. Vor der OP hat sie bereits zehn Kilo Gewicht hinter sich gelassen, bis heute insgesamt fast 50 Kilo abgeschmolzen. Auch mit Hilfe des Klinik-Teams, für das sie nur lobende Worte findet. "Denn der Erfolg hängt auch entscheidend davon ab, dass die Chemie stimmt", findet Franz, die auch jetzt noch zur Nachsorge in ständigem Kontakt mit den Ärzten und Therapeuten steht. Glück hatte sie auch mit ihrer Krankenkasse, die ohne Probleme einwilligte, die Kosten für die etwa 8000 Euro teure OP zu übernehmen.

Acht Monate später kann sie ihre Glücksgefühle nur schwer in Worte fassen: "Momentan kann ich an keinem Spiegel einfach vorbeigehen - immer muss ich mich betrachten", sagt sie und schlägt vor Freude die Hände zusammen. Und sie ist völlig fasziniert davon, endlich Dinge zu tun, die für andere selbstverständlich sind, etwa "sich in einem Gartenlokal in einen Stuhl zu setzen, ohne Angst haben zu müssen, dass er kracht. Oder sich Strümpfe selbst anziehen zu können". Fasziniert auch davon, wenn Leute sie ungläubig anschauen und ihr beteuern, sie nur an der Stimme wiedererkannt zu haben. Komplimente ohne Ende: "Das ist ja so geil", sagt sie selig, es kommt aus vollem Herzen. Zur "ganz neuen Lebensqualität " gehören auch "Mädelstage" mit ihrer Tochter oder das Staunen ihres Ehemannes oder Sohnes, wenn sie vor ihnen die Treppe hinuntereilt.

Heute reichen ihr kleine Rationen, um satt zu werden - auch wenn es ihr manchmal noch schwerfällt zuzusehen, wenn andere große Portionen vertilgen. Disziplin braucht sie - und nicht alles verträgt sie gut. Aber die Zahl ihrer Medikamente hat sich halbiert, Insulin braucht sie nicht mehr. Zum Sport geht sie zweimal pro Woche im Reha-Zentrum in Mandelbachtal. Dort erfährt sie Einfühlsamkeit und Motivation, wodurch sie es auch schaffte, eine Stunde am Stück durch den Wald zu walken. Und wie stolz sie hinterher war.

Noch ist Astrid Franz nicht am Ziel, 15 Kilo sollen mindestens noch schwinden. Aus eigener Erfahrung bekennt sie heute: "Wenn ein dicker Mensch behauptet, er fühle sich in seiner Haut wohl - glaub' es niemals. Es ist einfach nicht wahr."

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 Vorher: Astrid Franz bei der Feier ihres 50. Geburtstags im März 2016. Foto: Privat

Vorher: Astrid Franz bei der Feier ihres 50. Geburtstags im März 2016. Foto: Privat

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Hintergrund Wirksamstes Mittel gegen den lebensgefährlichen Leibesumfang ist oft eine Magenoperation. Es gibt mehrere Verfahren. Hier drei der gängigsten: Magenband: Mit einem Silikonband trennt der Chirurg einen kleinen Teil des oberen Magens ab. Dadurch wird eine kleine Magentasche gebildet. Ist diese mit Nahrung gefüllt, tritt schnell das Gefühl der Sättigung ein. Schlauchmagen: Dabei wird ein großer Teil des Magens abgetrennt, so dass nur ein schlauchförmiger Rest erhalten bleibt. Das auf diese Weise verkleinerte Organ wirkt sich positiv auf das Sättigungsgefühl aus. Magenbypass: Bei dieser Operation wird ein großer Teil des Magens und ein Stück des Dünndarms entnommen. Restmagen und -darm werden wieder miteinander verbunden. Dadurch wird die Nahrungspassage verkürzt, es kann weniger Nahrung verdaut werden. ine

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