Mehr als nur Seehofer gegen Merkel

Berlin · Jeder keilt gegen jeden: Die Flüchtlingskrise ist inzwischen vollends zu einer Regierungskrise geworden. An diesem Wochenende versuchen CDU, CSU und SPD, die Streitereien untereinander zu entschärfen.

Die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Wirtz stellte gestern klar: "Die Regierung ist handlungsfähig." Eigentlich eine Binsenweisheit. Doch gilt sie noch? Kein Geringerer als Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel hat daran nämlich Zweifel. Es geht halt derzeit drunter und drüber in der schwarz-roten Koalition, deren Spitzen sich an diesem Wochenende zum Krisengipfel treffen wollen. Wegen der Flüchtlingspolitik keilt jeder gegen jeden.

Dem Vernehmen nach wird sich zunächst am Samstagabend im Kanzleramt die Unionsführung treffen, dann ist Angela Merkel zurück aus China und CSU-Chef Horst Seehofer in Berlin . Beide, so heißt es, planten ein Vier-Augen-Gespräch, später sollen dann Unionsfraktionschef Volker Kauder und CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt dazukommen. Womöglich wird die Runde dann noch einmal erweitert. Bei dem Gespräch wird vor allem die Kanzlerin unter Druck stehen. Seehofer hatte ihr für einen Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik ein Ultimatum gesetzt und sie zuletzt immer schärfer attackiert. Selbst über die Trennung von CDU und CSU wurde spekuliert.

Seehofer erwartet offenbar klare Signale von Merkel, was die Begrenzung des Flüchtlingsansturms angeht. In Berlin , so heißt es in der CSU , habe man noch nicht begriffen, wie dramatisch sich die Lage an der bayerisch-österreichischen Grenze inzwischen darstelle. Auch die Risiken für die innere Sicherheit würden nicht erkannt. Durchaus möglich ist daher, dass Seehofer schon bei diesem Treffen eine vorübergehende Grenzschließung ins Gespräch bringen wird. Aus Berliner Unionskreisen verlautet, Merkel bewege sich langsam auf Seehofer zu. Gleichwohl wird betont, die Kanzlerin sei genervt, dass sie von Seehofer immer auch persönlich angegangen werde. Das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden habe erheblich gelitten - genau das macht die Situation unberechenbar und für die Koalition extrem gefährlich. Allerdings bekommt die Kanzlerin auch Feuer aus der eigenen Partei: So bereiten angeblich CDU-Politiker Parlamentsanträge vor, die die Regierung auffordern, den Zuzug von Flüchtlingen zu begrenzen.

Sonntagmorgen soll dann das Treffen der großen Drei im Kanzleramt stattfinden: Merkel, Seehofer und Gabriel. Dabei wird es vor allem um die umstrittenen Transitzonen gehen, die die Union an den Grenzen einrichten will, die aber die SPD ablehnt. Auch über weitere Maßnahmen wie einen Aufnahmestopp oder die Begrenzung des Familiennachzugs soll debattiert werden. Der Gipfel ist nicht nur wegen des unionsinternen Streits um die Flüchtlingspolitik besonders brisant: Gabriel feuerte gestern eine scharfe Breitseite gegen seine Koalitionspartner ab. Angesichts der großen Herausforderung wegen der starken Zuwanderung "bedroht der Streit zwischen CDU und CSU inzwischen die Handlungsfähigkeit der Regierung", ätzte der SPD-Chef. Seehofers Attacken und sein Ultimatum kanzelte er mit dem Satz ab: "Diese Form der gegenseitigen Erpressung und Beschimpfung ist unwürdig und schlicht verantwortungslos." Damit ist die Flüchtlingskrise vollends zur Regierungskrise geworden. Mehr noch: Im Moment liegt sogar so etwas wie Koalitions-Dämmerung über Schwarz-Rot.

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HintergrundDie hohe Zahl von Flüchtlingen wird nach Einschätzung des Bundeskriminalamts zu mehr Straftaten in Deutschland führen. "Wenn Sie eine Million Menschen mehr im Land haben, dann haben Sie potenziell auch die zusätzliche Kriminalität von einer Million Menschen", sagte BKA-Präsident Holger Münch dem "Focus". Das sei eine logische Folge. Flüchtlinge seien nicht per se kriminell, doch seien unter ihnen sehr viele junge Männer. "Da die polizeiliche Kriminalstatistik belegt, dass junge Männer, unabhängig von deren Herkunft, deutlich häufiger Straftaten begehen, wird uns ein Kriminalitätsanstieg mittel- und langfristig beschäftigen." Bereits heute komme es in der Nähe von großen Flüchltingsheimen zum Anstieg von Eigentumskriminalität. epd

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