Mehr als nur der Leiter einer Behörde
Brüssel · Jahrelang galt die EU-Kommission als institutionalisierter Sündenbock für die Brüsseler Zentralgewalt. Bis Jean-Claude Juncker kam. Nicht wenige sehen in dem Luxemburger Europas Regierungschef.
Als Jean-Claude Juncker am 1. November 2014 das Amt des Kommissionspräsidenten übernahm, galt Jacques Delors als das Maß der Dinge. Der französische Sozialist hatte die wichtigste EU-Behörde von 1985 bis 1995 geleitet. Bis heute wird er als der Mann gelobt, der der Gemeinschaft mit dem Binnenmarkt und der beginnenden Euro-Diskussion politisch den Stempel aufdrückte. Doch nach Junckers erstem Amtsjahr sind die Vergleiche verstummt. "Wir haben keine Zeit", drängte dieser vor wenigen Tagen die Staats- und Regierungschefs bei einer Telefonkonferenz zum Handeln in der Flüchtlingskrise. So redet keiner, der nur eine Institution leitet. So spricht ein Mann, der eine Führungsrolle beansprucht. Als europäischer Regierungschef?
Kaum im Amt, warf Juncker alles um, was man bisher von der Behörde kannte, die sozusagen als institutionalisierter Sündenbock für die Brüsseler Zentralgewalt gilt. Aus einem gleichberechtigten Team der Kommissare machte er einen schlagkräftigen Apparat mit sieben weisungsbefugten Vizepräsidenten. Den Niederländer Frans Timmermans holte er als seine rechte Hand, übertrug ihm alles, was mit Grundwerten und Entbürokratisierung zusammenhing. Juncker richtete die Kommission auf ihren Kampf um wirtschaftliches Wachstum hin aus.
Doch der Alltag sah anders aus: Trotz Kritik aus den Mitgliedstaaten hielt er bis zuletzt an Griechenland als Mitglied der Euro-Zone fest. Die Gespräche überließ er nicht allein der Euro-Gruppe, die dafür zuständig ist. Juncker verhandelte direkt mit Athen. Als im März 2015 die Flüchtlingswelle anrollte, versuchte er, den Mitgliedstaaten eine Verteilquote zu verordnen, an der sich viele bis heute reiben. Sein angeknackstes Verhältnis zur deutschen Kanzlerin heilte in den vergangenen Wochen, weil Juncker die deutsche Offenheit immer und immer wieder lobte. Und sich damit nicht nur als Vater der europäischen Idee, sondern als die wichtigste Brüsseler Instanz profilierte. Vor Juncker wäre es undenkbar gewesen, dass ein Kommissionspräsident eine Art Gipfeltreffen mit ausgewählten Staats- und Regierungschefs einberief und damit den ohnehin blassen Ratspräsidenten Donald Tusk praktisch ins Abseits schubste. So agiert kein Mann, der eine Behörde führt, die laut Definition nur als "Hüterin der Verträge" auftreten soll. Juncker würde das so nie sagen: Aber er beansprucht Regierungsverantwortung. Und wird darin akzeptiert.
Mitte dieser Woche legte die Kommission ihr Arbeitsprogramm für 2016 vor und auch das trägt die Handschrift des Luxemburgers, der bei seiner Wahl versprochen hatte: "Europa muss im Großen groß und im Kleinen kleiner werden." Das heißt konkret: Im kommenden Jahr sollen 48 überflüssige Gesetzesakte gestrichen werden, 23 neue Regulierungen zu grundsätzlichen Fragen will man in Angriff nehmen. Juncker macht vielleicht nicht bei jedem Auftritt den Eindruck, aber er marschiert tatsächlich voran.
Meinung:
Genau, was die EU braucht
Von SZ-KorrespondentDetlef Drewes
Jean-Claude Junckers politisches Gewicht hat wenig mit seinem Amt zu tun. Die europäischen Verträge beschränken die Macht des Kommissionspräsidenten deutlich. Doch der Luxemburger übernimmt eine Führungsrolle, die bislang unbesetzt war. Seine Vorgänger wären nie so deutlich mit den Staats- oder Regierungschefs ins Gericht gegangen, wenn die europäische Idee mit Füßen getreten wird. Juncker aber scheut sich nicht, auch Führungsfiguren die Leviten zu lesen, dann aber Hand in Hand mit ihnen vor die Kameras zu treten. Die Doppelstrategie aus freundlichem Respekt und schonungsloser Ehrlichkeit verleiht ihm Autorität, die das Amt eigentlich nicht hergibt. Dass er auch die manchmal institutionalisierte Wirkungslosigkeit der EU-Spitze durchbricht, hat viel mit diesem Stil, aber auch mit dem Anspruch zu tun, den er selbst erhebt. Das mag nicht vorgesehen sein. Aber es ist genau das, was diese Union braucht. Eine Persönlichkeit, die auf Lösungen fixiert ist, nicht auf das Aufrechterhalten eines Systems.