Krisen-Votum in Frankreich

Paris. Am Tag nach der ersten Wahlrunde wachten Frankreichs Wähler verkatert auf und noch immer unangenehm überrascht - zumindest die vier Fünftel von ihnen, die nicht für Marine Le Pen gestimmt hatten

Paris. Am Tag nach der ersten Wahlrunde wachten Frankreichs Wähler verkatert auf und noch immer unangenehm überrascht - zumindest die vier Fünftel von ihnen, die nicht für Marine Le Pen gestimmt hatten.Meinungsforscher hatten zwar relativ klar vorhergesehen, dass der sozialistische Herausforderer François Hollande (28,6 Prozent der Stimmen) vor Amtsinhaber Nicolas Sarkozy (27,3 Prozent) liegen würde. Doch Le Pens Stärke unterschätzten sie. Mit einem Ergebnis von 17,9 Prozent gilt die Rechtspopulistin als Gewinnerin dieses Votums, noch bevor der nächste Präsident feststeht.

Ob dieser Hollande oder Sarkozy heißt, wird am 6. Mai ermittelt. Der Sozialist tritt als klarer Favorit an, weil er auf die Stimmen einer breiten Anti-Sarkozy-Front bauen kann. Nicht entmutigt von ihren unpräzisen Prognosen, veröffentlichten die Meinungsforschungsinstitute gestern neue Erhebungen, nach denen sich eine linke Gefolgschaft hinter Hollande sammeln dürfte, während Sarkozy solche Reserven fehlen. Hinter Hollande sammeln sich der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon, der mit 11,1 Prozent der Stimmen zwar hinter den Erwartungen zurückblieb, aber eine Basis stark mobilisierter Anhänger hinter sich schart, sowie die mit 2,3 Prozent glücklose Grünen-Kandidatin Eva Joly. Der Favorit deutete noch am Abend in seiner moderat optimistischen Rede an, weiter auf die Unterstützung der Sarkozy-Gegner zu setzen. Die Wähler des Zentrumspolitikers François Bayrou, der lediglich auf 9,1 Prozent kam, dürften sich bei der zweiten Runde dreiteilen in Stimmenthalter, Sarkozy- und Hollande-Wähler. 2007 votierten sie noch mehrheitlich für Sarkozy.

Die Klatsche für den Präsidenten ist historisch: Noch nie lag ein Amtsinhaber im ersten Wahlgang zurück - nicht einmal Valérie Giscard d'Estaing, der 1981 in der zweiten Runde François Mitterrand unterlag. So in die Enge getrieben, bewies Sarkozy aber sogleich seine Kämpferqualitäten. Üblicherweise findet zwischen beiden Wahlrunden ein Fernseh-Duell statt, bei dem sich die Kontrahenten nichts schenken - Sarkozy schlug drei vor und wartete Hollandes Nein ab, um ihm Feigheit vorzuwerfen. Er sucht die direkte Konfrontation. Zum Tag der Arbeit am 1. Mai kündigte er eine große Feier an, "für all diejenigen, die hart arbeiten und leiden". Er respektiere die Wähler des Front National, verstehe ihre Sorgen. So versucht der selbst ernannte "Kandidat des Volkes", Marine Le Pen etwas entgegenzusetzen, die sich als einzige Gegenkraft zu "den Eliten" stilisiert und vom Frust derer profitiert, die sich im Stich gelassen fühlen.

"Die Krise hat gewählt. Massiv", kommentierte die Tageszeitung "Le Monde" gestern Le Pens Ergebnis. Nicht nur hat sie als Vorsitzende die Partei mit ihrem rauen Charme und der Erweiterung des Programms auf soziale und wirtschaftliche Themen - wenn auch so umstrittene wie der Forderung nach einem Ausstieg aus dem Euro - aus der Schmuddelecke geholt. Vor allem dient Le Pen als Ventil der Angst - vor Überfremdung und der Globalisierung, die immer mehr Arbeitsplätze schluckt; vor einer Krise, auf die die etablierten Politiker keine Antwort finden. Die 43-Jährige tut es mit pauschaler Kritik und dem Versprechen, Frankreich wieder zu alter Stärke zurückzuführen in der Rückbesinnung auf seine Identität - und zwar möglichst ausländerfrei. Sie spekuliert auf eine Niederlage Sarkozys und das Zerbersten seiner konservativen Partei, um mit Teilen davon eine alternative Rechts-Front aufzubauen. Das Votum verleiht ihr Kraft dazu.

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